Das dunkle Erbe
sollte die Erinnerung an den Sabbat in die darauffolgende Woche weitertragen. Je kunstvoller, desto mehr verraten sie über ihre Zeit. Viele sind verloren, aber ein paar muss es noch geben, gut versteckt. David hätte seinen Schatz nicht einfach so zurückgelassen, leicht zugänglich. Diese Gegenstände dürfen nicht verunreinigt werden. Sie warten darauf, dass jemand sie wieder berührt und bewundert.«
Die Begeisterung, mit der Sharon über diese Dinge sprach, gefiel Raupach. Es wirkte nicht so aufgesetzt wie ihre Entrüstung bei der Festnahme.
Sie suchte immer wieder Blickkontakt mit Augen, die sich fragten, ob er sie verstand.
NIESKEN HATTE den Grundriss der Villa Stockwerk für Stockwerk an die Magnettafel in Raupachs Büro gezeichnet, mit blauem Edding und so akkurat, wie ein Mann wie Niesken eben vorging, das Lineal war sein bester Freund. Mit Hilfe der beschlagnahmten Unterlagen der Ärztin hatte er die Pläne des Hauses in den exakten Proportionen übertragen.
Sharon blieb eine Weile vor der Tafel stehen. Für das Untergeschoss interessierte sie sich besonders. Sie studierte die Längenangaben, verglich die Maße.
Der Kommissar nahm an seinem halbkreisförmigen Schreibtisch Platz. Bildschirm, Tastatur und ein großer Rheinkiesel, mehr befand sich nicht darauf. Es war der passende Ort, um Springman das Gefühl zu geben, sich unkonventionell und vertraulich austauschen zu können. Er lud sie ein, neben sich Platz zu nehmen.
Die Tür zu den Arbeitsplätzen von Photini und Höttges stand offen. Photini brachte Getränke, verließ den Raum wieder und tat so, als beschäftige sie sich mit Papierkram. Es fiel ihr nicht leicht, die beflissene Sekretärin zu spielen, aber wenn nötig, konnte sie noch in ganz andere Rollen schlüpfen.
Springman war in eine kleine Pension gezogen, bekam Photini mit, damit sie von der Polizei unbehelligt blieb, nachdem sie in die Villa eingedrungen war. Natürlich sei der Einbruch ungesetzlich gewesen, aber sie habe gewisse Probleme mit deutschen Behörden. Ihre Urgroßmutter Hedwig hatte in den fünfziger Jahren Wiedergutmachung für David Springmanns Enteignung gefordert und war abschlägig beschieden worden, weil sie sich von ihrem Mann getrennt hatte. Belege für die Arisierung der Fabrik gab es ohnehin nicht mehr, und das Haus war ja ganz legal auf Ernst Wenzel übergegangen.
Danach habe man nicht weiter nachgeforscht. Viele Juden wollten die Vergangenheit damals lieber ruhen lassen. Sie hatten sich im Ausland neue Existenzen aufgebaut und dachten in einer Mischung aus Trauer, Entsetzen und manchmal Wut an die verlorene Heimat zurück. Wenn sie mit ihren ersten Anfragen nicht durchdrangen und Bekanntschaft mit der hartherzigen, unsensiblen Nachkriegsbürokratie schlossen, ließen sie ihre Ansprüche fallen in der Annahme, dass sich im Land ihrer Väter nicht viel geändert hatte.
Die Sache mit der Villa geriet in Vergessenheit, die nächste Generation blickte in die Zukunft – bis Sharon sich damit befasste, anfangs widerwillig, aus einer inneren Verpflichtung heraus. Dann erwachte ihr journalistischer Ehrgeiz. Sie arbeitete sich in das Thema Arisierung ein. In Deutschland wurde dazu vor allem auf regionaler Ebene geforscht und seit den neunziger Jahren immer mehr zutage gefördert. Man versuchte, die Vergangenheit greifbar zu machen. Die »Entjudung« wurde glaubhafter, wenn die Profiteure ein Gesicht bekamen: Das Kaufhaus Tietz ging auf XY über.
XY durfte jedoch wegen der Persönlichkeitsrechte nicht namentlich genannt werden, ein Paradox der Demokratie. Nur wer sich auskannte in den lokalen Verhältnissen, konnte entsprechende Schlüsse ziehen. Falls sich die Besitzverhältnisse nicht schon wieder geändert hatten.
Für Sharon waren diese Bemühungen ein Feigenblatt. Die Deutschen, Weltmeister in Trauerarbeit, brachten zwar Licht in das Dunkel. Aber mit dem Finger wollten sie nicht auf die alten Verbrecher zeigen, das war ihnen – bequemerweise – untersagt. Reine Heuchelei.
Raupach widersprach. Es gebe ein großes Interesse daran, neben den Opfern auch die Täter ausfindig zu machen und zu benennen. Aus Gründen des Datenschutzes sei das leider nur in begrenztem Umfang möglich. Ihm selber gefalle das auch nicht, doch denke er nach wie vor, dass man differenzieren müsse.
Der Übergang jüdischer Vermögenswerte in nichtjüdischen Besitz sei nicht ausschließlich aus niederen Beweggründen erfolgt, jeder einzelne Fall sei anders gelagert. Eine namentliche
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