Das dunkle Erbe
Benennung der Ariseure würde diese Leute und ihre Nachkommen an den Pranger stellen und pauschale Verurteilungen nach sich ziehen.
»Sie glauben also, Ernst Wenzel sei ein ehrlicher Ariseur gewesen?«, fragte Sharon. »Dass er sich aus reiner Menschenfreundlichkeit ins gemachte Nest setzte und brav auf das Ende des Krieges wartete, um meiner Familie dann wieder alles zurückzugeben?«
Sie ließ Raupach keine Zeit zu antworten. »Ich will Ihnen sagen, wie das lief, und dabei unterstelle ich mal, dass Wenzel zumindest einen Funken Anstand besaß. Anfangs wollte er David tatsächlich helfen, davon ging auch Hedwig aus, das weiß meine Familie aus ihren Erzählungen. Sie hielt Wenzel für einen anständigen Menschen, einen treuen Mitarbeiter, der genau wusste, was er David verdankte. Die Enteignung, das war ihm klar, würde nur so lange Bestand haben, wie die Nazis in Deutschland das Sagen hatten. Die Wirtschaft war schon damals global, Finanzströme versickerten nicht einfach oder machten vor Staatsgrenzen halt, Gesetze konnten wieder rückgängig gemacht werden. Aber dann begann der Krieg, ungefähr ein halbes Jahr nach Davids Abreise. Er brachte noch viel radikalere Umwälzungen, übrigens wurde er zu einem nicht geringen Teil mit den Gewinnen aus der Enteignung der Juden finanziert. Sie können sich vorstellen, dass sich die Moral damals immer weiter verschob. Kriege schaffen vollendete Tatsachen. Wie sie auch ausgehen, nichts ist danach wie vorher. Wenn man, wie die Deutschen am Anfang, von Sieg zu Sieg eilte und fast ganz Europa beherrschte, fielen die Schweinereien aus dem Vorfeld nicht mehr ins Gewicht. Sie wurden ersetzt durch militärische Plünderungen in großem Stil, zum Beispiel durch den Raub der Goldreserven ganzer Länder. Wer dachte damals daran, dass die Juden möglicherweise irgendwann entschädigt werden mussten? Wenzel sicher nicht, er betrachtete die Villa immer mehr als sein Eigentum.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Raupach. »Das ist nur eine Mutmaßung.«
»Ich versetze mich in seine Lage, und die änderte sich mit dem Verlauf des Krieges ja fundamental. Was ging, sagen wir, 1944 in ihm vor? Auf dem Papier gehörte die Villa ihm, von David Springmann hatte er seit sechs Jahren nichts gehört. Allerdings war es nach der Invasion in der Normandie nur noch eine Frage der Zeit, bis die Amerikaner und die Briten Köln einnahmen. Konnte er damit rechnen, dass es danach wieder schnell aufwärtsging? Wohl kaum. Er musste vielmehr befürchten, dass die Alliierten ihm alles wegnahmen. Marienburg war längst nicht so stark beschädigt wie andere Kölner Stadtteile, hier würden sich die Besatzer also großzügig bedienen. Welche Vorbereitungen traf Wenzel, um seine Besitztümer zur Seite zu bringen?«
»Das fragen wir uns auch.« Raupach wunderte sich über Springmans Gesprächigkeit. Sie wurde zunehmend kooperativ.
»Ich kann Ihnen die Antwort verraten«, sagte sie. »Und noch einiges mehr, was ich bei meinen Recherchen herausgefunden habe. Dinge, die nicht in den städtischen Akten stehen – und die Sie garantiert nicht wissen. Sie und Ihre Leute befassen sich erst seit ein paar Tagen mit diesem Fall. Ich arbeite schon viel länger daran.« Sie wies auf die Kopie der Liste aus Eva von Barths Schreibtisch. »Dann kriegen Sie Ihr Mordmotiv.«
»Ich höre.«
»Versprechen Sie mir, dass ich straffrei ausgehe?«
Raupach runzelte die Stirn. »Sie wollen einen Deal? Halten Sie mir deswegen Vorträge?«
»Was haben Sie denn gedacht?«
»Finden Sie das nicht etwas dreist in Ihrer Situation?«
»Keine Anklage, außerdem lassen Sie mich an Ihren Ermittlungsergebnissen teilhaben. Im Gegenzug erfahren Sie alles, was ich weiß.«
»Immer noch eins draufzusetzen, ist das eine amerikanische Verhandlungstaktik?« Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Wenn wir uns einigen, gehe ich mit der Story nicht an die Öffentlichkeit. Noch nicht.«
Jetzt hatte Photini genug. Sie stapfte in Raupachs Büro und baute sich vor Springman auf. »Hören Sie auf zu bluffen. Ihre Zeitung schützt Sie nicht, das habe ich mit New York abgeklärt. Sie sind privat in Deutschland unterwegs und haben dafür eine längere Auszeit genommen. Wer würde Ihre Geschichte drucken, ohne handfeste Beweise?«
»Die Geschichte befindet sich ja noch gar nicht auf Papier«, gab Sharon zurück und versuchte, freundlich zu bleiben. »Abgesehen davon habe ich Ihnen bereits jede Menge erzählt, in advance, sozusagen als kostenlosen
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