Das dunkle Fenster (German Edition)
Gefangenen machen wollten. Wer konnte dahinter stecken? Er glaubte einfach nicht, dass es der Mossad war. Viel zu grobschlächtig, viel zu spektakulär. Die hätten sich einen ruhigen Moment ausgesucht, wo sie ihn ohne Zeugen erledigen konnten – wenn das wirklich ihr Ziel war.
Nein, das hier trug eine andere Handschrift. Und sie passte zu dem Überfall in Beirut. Aber wer, wiederholte er die Frage in seinem Kopf. Wer?
Vielleicht musste er tiefer graben. Vielleicht zurückgehen in die eigene Vergangenheit. Vielleicht war es jemand, der verhindern wollte, dass er Informationen mit den Mossad-Leuten teilte. Die Mordanschläge hatten erst begonnen, nachdem der Mossad sich auf seine Fährte gesetzt hatte.
Das Rosenfeldt-Attentat.
Es war der logische Fixpunkt, um den alles kreiste. Der Mord an Rosenfeldt hatte den Mossad überhaupt erst auf seine Fährte gelockt. Das war es, was die Israelis interessierte – sie wollten die Namen der Hintermänner. War es dann nicht denkbar, dass genau diese Leute verhindern wollten, dass man ihre Identität aufdeckte?
Das Dumme an der Sache war nur, dass er den Auftraggeber nicht kannte. Viktor, sein alter Geschäftspartner, hatte den Job vermittelt, wie auch alle anderen, die Nikolaj jemals durchgeführt hatte. Viktor Kusowjenko hatte die Bedingungen verhandelt und sich auch um die Bezahlung gekümmert. Nikolaj hatte nie direkten Kontakt zu den Auftraggebern unterhalten.
Doch nun würde er sich vielleicht doch noch damit beschäftigen müssen. Die Vorstellung weckte Widerwillen. Er hatte abgeschlossen mit diesem Kapitel seines Lebens; und jetzt musste er die alten Geschichten wieder aufrühren. Er schloss die Augen, lehnte die Stirn gegen das kalte Fensterglas. Davor hatte er sich gefürchtet, und er tat es immer noch. Gleichzeitig wusste er, dass es die einzige Möglichkeit war. Wenn er Ruhe wollte, musste er ganz zurückgehen. Egal, wie sehr sein Instinkt sich wehrte.
Als Carmen aufwachte, war sie zuerst orientierungslos. Verstört musterte sie das fremde Schlafzimmer. Sie brauchte mehrere Herzschläge, bis ihr wieder einfiel, wie sie hierher gekommen war. Sie schlug die Decke zurück und stand auf. Die unerwartete Belastung schickte sofort einen Schmerz durch ihren geschwollenen Knöchel. Rasch verlagerte sie ihr Gewicht auf das andere Bein. Sie tappte zum Kleiderschrank und spürte einen Stich schlechten Gewissens, weil sie sich so skrupellos die Hülle ihrer Freundin aneignete. Janine hätte sicher etwas dagegen gehabt, dass Carmen ihre Wäsche plünderte. Aber sie hatten ungefähr die gleiche Größe, und Carmen versicherte sich selbst, dass dies eine Notsituation war. Sie würde alles wieder in Ordnung bringen – später.
Nach einigem Suchen fand sie eine Jeans und ein dunkles T-Shirt, weiter unten in einer Schublade auch Socken und Unterwäsche. Rasch kleidete sie sich an, dann öffnete sie die Schlafzimmertür. Ein leichter Hauch Nikotin streifte ihre Nase. Janine würde sie umbringen, wenn sie erfuhr, dass jemand in ihrer Wohnung geraucht hatte.
Nikolaj tauchte in der Küchentür auf, die Zigarette zwischen zwei Finger geklemmt. Carmen betrachtete ihn einen Moment, wie er da stand, noch immer in der grauen Wollhose mit dem blutverkrusteten Hosenbein und dem weißen Hemd, das nun von dunklen Flecken übersät und an der Schulter zerrissen war. Kinn und Wangen waren von mehrere Tage alten Bartstoppeln bedeckt, unter seinen Augen zeichneten sich tiefe Schatten ab.
„Wie geht’s dir?“, fragte er.
„Besser.“ Plötzlich wurde ihr der ganze Irrwitz ihrer Situation bewusst. Ihre Existenz war binnen weniger Tage in Scherben zerbrochen und sie wusste nicht, ob sie es mit ihrer letzten Entscheidung nicht noch schlimmer gemacht hatte. Andererseits wäre sie ohne Nikolajs Eingreifen bereits tot – ein Gedanke, der ihr ein flaues Gefühl im Magen verursachte. Sie hatte ihre Wahl nicht willkürlich getroffen.
„Kaffee?“, fragte Nikolaj.
„Ja.“
Er drehte sich um und hantierte am Küchenschrank.
„Zucker?“
„Zucker und Milch.“
„Es gibt nur Zucker.“
Der Dialog rührte an eine Erinnerung, die erst wenige Tage alt war und die sie zusammen mit den anderen Ereignissen zu verdrängen versucht hatte. Den Morgen nach ihrem Zusammenbruch in Hermel. Es war ihr peinlich. Sofort schob sie das Bild beiseite.
„Dann nehme ich ihn so“, sagte sie brüsk.
Nikolaj blickte auf, überrascht vom plötzlichen Bruch in ihrer Stimme.
Carmen zwang ein Lächeln auf ihr
Weitere Kostenlose Bücher