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Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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zuversichtlich, obwohl er selbst vermutet hatte, dass Kusowjenko ihm eine Falle stellen würde.
    Carmen teilte diese Zuversicht nicht. Gestern Nacht hatte sie ein weiteres Mal versucht ihn davon zu überzeugen, dass sie Katzenbaum anrufen sollten, aber Nikolaj wollte nichts davon hören. Carmen betrachtete die Telefonzellen, zurückgesetzt zwischen zwei Geschäften. Eine junge Frau stand dort und telefonierte, zwischen ihren Füßen lehnte eine Papiertüte.
    Das war ihre letzte Chance. Ihre letzte Chance, bevor sie nach Berlin fuhren, um sich dort mit einem übermächtigen Gegenspieler anzulegen. Unschlüssig kaute sie auf ihrer Unterlippe. Wenn sie jetzt diesen Anruf startete, konnte das alles ändern. Wenn sie es nicht tat ...
    Carmen straffte ihre Schultern und setzte sich in Bewegung. Sie wartete, bis die junge Frau fertig war, dann nahm sie ihren Platz ein. Sie warf eine Handvoll Münzen ein, nahm den Plastikhörer ab und wählte aus dem Gedächtnis eine Handynummer.
63 Berlin | Deutschland
     
    Die Galerie Neuhoff lag im Parterre eines Backsteinbaus in der Weimarer Straße, schräg gegenüber einem neugotischen Kirchenbau. Ein Holztor stand offen und gab den Blick in einen gepflasterten Innenhof frei. Alte Linden schirmten die Sonne ab; auf den Bürgersteigen raschelten die ersten gelben Blätter. Rafiq entdeckte eine alte Frau, die ihren Hund spazieren führte. Davon abgesehen war die Straße leer.
    Er durchquerte die Tordurchfahrt und betrat die Galerie durch eine Glastür im Hof, die ebenfalls einen Spalt geöffnet war. Polierter Parkettboden knarrte leise unter seinen Sohlen; es roch nach Bohnerwachs und frischer Farbe.
    „Hallo?“, fragte er halblaut. „Hallo, ist jemand da?“
    Sein Blick blieb an den großformatigen Schwarzweiß-Fotografien haften, die in Stahlrahmen an den Wänden hingen. Irgendwo im Gebäude klapperte eine Tür, dann Schritte. Rafiq drehte sich zurück in den Raum. Ein Mann tauchte auf, untersetzt und nicht mehr ganz jung, mit hellen Augen hinter dünn gerahmten Brillengläsern.
    „Haben Sie gerade gerufen?“, erkundigte er sich höflich.
    Rafiq lächelte. „Guten Tag. Sind Sie der Galerist?“
    Der Mann nickte. „Ich heiße Martin Scholz.“ Er deutete eine kleine Verbeugung an, eine Geste, der ein seltsam altmodischer Charme anhaftete. „Dient Ihr Besuch einem bestimmten Zweck oder ...“, er machte eine weit ausholende Armbewegung, „möchten Sie sich einfach nur die Ausstellung ansehen?“
    „Haben Sie etwas Zeit für mich?“
    Scholz nickte. „Wie Sie sehen, sind Sie im Augenblick mein einziger Besucher. Also was kann ich für Sie tun?“
    „Mein Name ist Silva“, begann Rafiq, „Marco Silva. Ich arbeite an einem Buch, und ich interessiere mich in diesem Zusammenhang für einen Künstler, dessen Arbeiten Sie in der Vergangenheit ausgestellt haben.“
    „Oh?“ Scholz zog die Augenbrauen hoch. „Um wen geht es denn?“
    „Nico Delani.“
    Die Falten auf der Stirn des Galeristen vertieften sich. „Oh“, wiederholte er.
64 Mlada Boleslav | Tschechische Republik
     
    Carmen musste sich zwingen, nicht auf der Stelle loszurennen, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. Leise Übelkeit sammelte sich in ihrer Kehle, ihre Nerven fühlten sich dünn an und straff gespannt wie Stahlsaiten. Sie hatte erwartet, dass sie sich nach diesem Telefonat besser fühlte, aber das Gegenteil war der Fall. Wie betäubt strebte sie zum Ausgang, hastete zum Auto, schloss mit feuchten Handflächen die Tür auf und stellte die Einkaufstüte auf den Beifahrersitz.
    Und was, hämmerte es durch ihr Bewusstsein, wenn sie sich in ihrer Einschätzung getäuscht hatte? Was bedeutete das dann? Was vor allem hieß es für ihre eigene Sicherheit?
    Einen Herzschlag lang spielte sie durch, was passieren würde, wenn sie sich einfach absetzte. Sie konnte das alles hinter sich lassen. Es war ganz einfach. Statt hier auf Nikolaj zu warten, musste sie nur den Motor anlassen und losfahren. Der Gedanke war reizvoll. So sehr, dass sie ihn noch einen Moment länger träumte. Europas Grenzen standen offen, sie konnte viertausend Kilometer fahren, ohne eine Spur zu hinterlassen. Nach einem Tag oder zwei würde niemand mehr ihre Route nachvollziehen können. In der Tasche auf dem Rücksitz befanden sich immer noch knapp tausend Euro. Carmen startete den Wagen und legte einen Gang ein.
    Jemand klopfte an die Scheibe und schreckte sie aus ihren Gedanken. Sie erkannte Nikolaj, der auf der Beifahrerseite aufgetaucht

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