Das dunkle Fenster (German Edition)
Nikolaj fragte sie, ob sie noch Kontakt zu ihnen habe. Carmen verneinte. Zu gefährlich, meinte sie. Es klang wie eine Ausrede.
Später am Abend schlenderten sie durch die Altstadt, vorbei am Albertinum und der Frauenkirche, dann die Töpferstraße hinunter bis zur Semperoper. Die Straßen waren voller Lichter und gut gekleideter Menschen. Sie hatten sich im Mercure Hotel eingebucht, einem großen Neubau auf der anderen Seite der Elbe. Als sie zurückkamen, duschte Carmen nur kurz und legte sich ins Bett. Sie schlief fast sofort ein. Nikolaj löschte das Licht, nahm sich eine Flasche Rotwein aus der Minibar und setzte sich hinaus auf den Balkon.
Er blieb lange dort sitzen, rauchte, während er die Weinflasche zur Hälfte leerte und die vierspurige Straße beobachtete, die schräg unter ihrem Fenster verlief.
Gegen zwei Uhr nachts frischte der Wind auf. Nikolaj schob die Balkontüren auf und kehrte ins Zimmer zurück, um sich eine Jacke zu holen. Carmens Silhouette wurde fast vollkommen von der Dunkelheit verschluckt; nur der Schein einer Straßenleuchte malte sich auf der Bettdecke ab und zeichnete ein Ohr und einen Teil ihrer Wange in scharfen Schwarzweiß-Kontrasten.
Sein Blick blieb an ihr hängen, sofort überwältigte ihn Befangenheit. Er fühlte sich wie ein Dieb, der unerlaubt in ihre Privatsphäre eingedrungen war. Regungslos stand er da und betrachtete ihr Gesicht.
Er wusste, dass er eigentlich hätte schlafen sollen. Sein Körper brauchte die Ruhe; nur sein Verstand war überreizt und gaukelte ihm vor, dass er keine Müdigkeit spürte. Reflexartig sprangen seine Gedanken zu Kusowjenko. Etwas, das er die ganze Zeit versucht hatte zu vermeiden. Es war wie ein kompliziertes Schachspiel. Er machte einen Zug, berechnete drei andere, versuchte die Berechnungen des Gegners zu erraten. Und Viktor spielte genau das gleiche Spiel, nur mit den schwarzen Steinen. Jeder versuchte die Nerven zu behalten und jeder hoffte, dass der andere sich zuerst zu einer unbedachten Reaktion hinreißen ließ.
‚Was wirst du machen, wenn das alles vorbei ist?’, hatte er Carmen gefragt. Er hatte selbst nicht genau gewusst, welche Antwort er sich erhoffte, aber die Vorstellung, dass sie getrennte Wege einschlagen würden, riss eine heftige Leere in ihm auf. Die Gewalttätigkeit dieser Empfindung überraschte ihn. Mit einem Ruck drehte er sich weg. Er griff nach seiner Jacke und wandte sich zurück zum Balkon.
In diesem Moment erwachte Carmen. Sie richtete sich auf, die Bettdecke rutschte von ihren Schultern und entblößte die schmalen Träger ihres Hemdes.
„Wie spät ist es denn?“, murmelte sie schlaftrunken.
Nikolaj erstarrte. „Kurz nach zwei“, hörte er sich sagen. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht wecken, ich ...“
„Warum kommst du nicht ins Bett?“ Ihre Augen glänzten. „Du musst ein paar Stunden schlafen.“
Sie zog den Saum ihrer Bettdecke ein Stück hoch. Nikolajs Mund wurde trocken. Carmen ließ sich zurück ins Kopfkissen sinken.
„Jetzt komm“, forderte sie ihn auf. Ihre Stimme klang noch immer belegt. „Und mach die Balkontür zu, es ist kalt.“
Nikolaj umrundete das Bett und setzte sich auf die Matratze. Mit steifen Bewegungen zog er sich das T-Shirt über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. Dann drehte er sich halb zu ihr um. Carmen hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und sah ihn an. Mit der freien Hand strich sie eine lose Haarsträne hinters Ohr.
„Was ist?“, fragte sie.
„Du machst mich nervös.“
„Ist das so?“
Ein verlegenes, beinahe mädchenhaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Wieder fiel ihm auf, wie jung sie aussah. Er tastete nach dem Verband an seiner Schulter. Die Wunde schmerzte kaum noch. Als das Schweigen unangenehm wurde, stand er auf und trat ans Fenster. Wortlos schloss er die Balkontür. Er drehte sich um und sah, dass Carmen ihn noch immer beobachtete. Ihr Antlitz hatte einen nachdenklichen Zug angenommen.
„Was überlegst du?“, fragte er.
„Vielleicht sind wir morgen um diese Zeit schon tot.“
Nikolaj schob die Decke ein Stück beiseite und setzte sich neben sie ans Fußende des Bettes. Er spürte, wie sie ihre Beine anzog.
„Das bezweifle ich.“
„Du bist eben ein hoffnungsloser Optimist. Das warst du damals schon.“
„Was?“
„Dein Plan dieses Camp zu überfallen, war verrückt. Das hätte niemals funktionieren können.“
Nikolaj wollte etwas einwenden, aber sie stoppte ihn mit einer Handbewegung. „Rafiqs Plan war
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