Das dunkle Fenster (German Edition)
Überwachungskamera.“ Er zögerte. Als er weiter redete, klang seine Stimme flach und ausdruckslos. „Sie haben den Typen in Hawqa fotografiert und die Bilder durch den Computer geschickt. Es gab einen Treffer. Lev sagt, es ist Nikolaj Fedorow.“
Carmen verstand nicht sofort. Das ergab keinen Sinn. Aber er fügte keine weitere Erklärung hinzu, nichts, das seine Aussage verständlicher machte. Er sah sie einfach an und wartete.
„Nikolaj ist tot“, sagte sie endlich. Sie versuchte, sich an sein Gesicht zu erinnern. Grüne Augen und sandfarbenes Haar. Seine Augenfarbe war ihr im Gedächtnis haften geblieben. Was noch? Abgetragene Jeans und ein Militär-Shirt in Tarnfarben. Das Lederbändchen mit der Silbermünze fiel ihr plötzlich ein. Rafiq hatte ein Gegenstück besessen, bis zu dem Tag, an dem sie dem israelischen Militär in die Hände gefallen waren.
„Offenbar nicht“, schnitt seine Stimme in ihre Gedanken. „Lev sagt, er hat seinen Tod nur inszeniert, um danach abzutauchen.“
„Du meinst, Nikolaj ist Fabio“, hörte sie sich selbst sagen. „Das ist doch Schwachsinn.“
„Ich weiß nicht“, sagte Rafiq. Er klang erschöpft. Carmen starrte ihn an, während er an seiner Jacke nestelte und dann einen zerknitterten Umschlag hervorbrachte. „Sieh dir die Aufnahmen an und sag mir, was du denkst.“
Carmen nahm ihm das Kuvert aus der Hand. Es enthielt nur zwei Bilder. Das erste Foto zeigte zwei Männer, einen davon in einer dunklen Robe – ein Priester vielleicht. Auf dem anderen Abzug war das Gesicht des zweiten Mannes herausvergrößert. Sie hatten ihn im Halbprofil fotografiert, die Konturen unscharf, keine besonders gute Qualität. Aber wahrscheinlich hatte es schnell gehen müssen. Seine Augenfarbe ließ sich nicht bestimmen, Licht und Aufnahmewinkel waren zu ungünstig. Kamen ihr die Gesichtszüge irgendwie bekannt vor? Sie konnte es nicht sagen. Ein kurzer Blick zu Rafiq sagte ihr, dass es ihm ähnlich ging.
Sie steckte die Bilder zurück in den Umschlag. „Was genau erwarten die jetzt von uns?“
Rafiq zuckte mit den Schultern. Der Geste haftete eine seltsame Hilflosigkeit an. Eine Welle von Zuneigung zu dem Mann stieg in ihr auf. Es kam überraschend und war nicht das, was sie geplant hatte. Dann wurde ihr bewusst, dass er vielleicht genau diese Reaktion in ihr provozieren wollte. Rafiq war gut im Manipulieren von Menschen.
„Ich bin mir nicht sicher, ob Lev überhaupt schon einen Plan hat“, sagte er. Er ließ den Umschlag in der Innentasche seiner Jacke verschwinden.
„Das ist, als ob man einem Geist begegnet“, murmelte Carmen. „Ich meine, ich kann mich nicht mal an sein Gesicht erinnern. Das war bizarr damals, als sie uns gesagt haben, dass er zu ihnen gekommen ist, um ihnen diese Informationen zu verkaufen. Ich konnte mir nie vorstellen, dass er das wirklich getan hat.“ Rafiq setzte zu einer Entgegnung an, aber sie unterbrach ihn, weil sie noch nicht fertig war. „Ich weiß, wir haben das tausend Mal diskutiert. Es heißt ja auch nicht, dass er es nicht getan hat. Es ist einfach nur, dass ich es mir nicht vorstellen konnte.“ Sie zögerte einen Moment. „Ich frage mich, was passieren würde, wenn er mir plötzlich gegenübersteht. Vielleicht müsste ich entscheiden, ob ich schießen soll oder nicht. Vielleicht hängt die Operation davon ab. Wenn ich nicht schieße, entkommt er.“
„Und wie würde die Wahl ausfallen?“, fragte Rafiq sanft.
„Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht. Jetzt im Moment habe ich nicht das Gefühl, dass es ein Problem wäre. Aber wenn ich ihm gegenüberstehe, könnten die Dinge ganz anders liegen.“
„Ja, vielleicht.“
„Wie ist es mit dir? Könntest du es tun?“
„Ihn erschießen?“ Er legte den Finger gegen die Lippen. Der Anflug eines Lächelns glitt über sein Gesicht. „Wirklich, das frage ich mich schon die ganze Zeit. Damals, als Lev mir die Fotos aus Kairo zur Identifizierung gegeben hat, war ich froh, dass ich vor vollendete Tatsachen gestellt war. Ich konnte danach besser schlafen.“
Carmen blickte zur Seite, starrte eine Zeitlang hinunter auf die Brandung. Der Wind hatte aufgefrischt und warf hohe Brecher gegen die aufgeschütteten Betonklötze.
Die sichere Wohnung war hellhörig. Als Rafiq und Carmen vom Essen zurückkamen, tönte aus den geöffneten Fenstern ein Stockwerk tiefer arabische Popmusik. In der Nachbarwohnung lief der Fernseher.
Lev Katzenbaum war nicht da. Sofia sagte, dass er später kommen
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