Das dunkle Fenster (German Edition)
Unbehagen.
„Carmen“, begann er, „wenn du das nicht tun willst, dann ...
„Nein“, unterbrach sie ihn, den Blick noch immer auf die Straße gerichtet. „Es ist okay, wirklich. Ich bezweifle nur, dass uns das weiterbringt. So wie ich das sehe, gibt es zwei Möglichkeiten.“ Sie drehte sich nun doch zu ihm um. „Erstens – es passiert überhaupt nichts. Der Kerl reagiert nicht auf mich, weil’s eben nicht Nikolaj ist, sondern jemand anderes. Oder es ist Nikolaj, aber er erkennt mich nicht. Zweitens – wir kommen irgendwie ins Gespräch, reden über alte Zeiten und treffen uns nochmal zum Essen. Erzählen uns, was wir so gemacht haben in den letzten Jahren. Denkst du ernsthaft, er sagt dann: ‚übrigens, ich habe da einen lukrativen Nebenjob. Als Auftragskiller, das ist ganz nett, hat immer Saison und die zahlen auch gut.’ Hey, vergiss es.“ Sie ließ sich auf die Sessellehne sinken. „Oder es ist Nikolaj, aber er hat mit Fabio nichts am Hut, sondern kümmert sich nur um seine eigenen schmutzigen Geschäfte. So sehe ich das.“
Rafiq musterte ihr Gesicht, die grauen Augen, die helle, beinahe durchscheinende Haut. Nie wusste er, was sie wirklich dachte. Sie wirkte so gefasst, so ungeheuer pragmatisch. Als könne das alles sie nicht berühren. Unwillkürlich streckte er eine Hand nach ihr aus. Carmen wich vor der Berührung zurück. Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Jetzt nur nicht sentimental werden“, sagte sie. „Das passt nicht zu dir.“
Rafiq ließ den Arm sinken und stand auf. Er ging in die Küche und nahm die angebrochene Flasche Rotwein von der Anrichte. „Willst du auch was vom Wein?“, rief er durch die geöffnete Tür.
Sie waren nicht wirklich betrunken, aber der Wein trug dazu bei, dass sie sich entspannten. Carmens kühle Zurückhaltung hatte Risse bekommen. Sie begann von ihrem letzten Job in Deutschland zu erzählen. Es fühlte sich fast ein bisschen wie früher an. Als die anderen nach Hause kamen, war die Flasche leer. Sofia und Tal wollten sofort schlafen gehen. Lev setzte sich vor den Fernseher und begann durch die Programme zu schalten.
„Wir können noch eine Runde um den Block drehen“, schlug Rafiq ohne große Überzeugung vor.
Carmen nickte.
„Ja?“, fragte er überrascht.
„Ja.“ Sie leerte ihr Glas und erhob sich.
Katzenbaum blickte nur kurz stirnrunzelnd auf, als sie sich anschickten, die Wohnung zu verlassen. Ein Pulk Studenten kam die Straße hinunter, während sie nach draußen traten. Gelächter schwang in die Nacht, melodisches Französisch und dazwischen arabische Wortfetzen. Rafiq dirigierte Carmen in die andere Richtung, den Berg hinunter. Schweigend schlenderten sie an Hauswänden entlang, bogen in eine schmale Quergasse und wechselten dann die Straßenseite, weil eine Baustelle den Weg versperrte.
„Ihr seid hier aufgewachsen“, sagte Carmen plötzlich.
„Na ja, fast.“ Rafiq blieb vor einem verrosteten Zaun stehen. Dahinter lag ein verwilderter Garten, zwischen den Bäumen zeichneten sich die Mauern einer zerstörten Villa ab. „Soll ich dir zeigen, wo wir uns als Kinder rumgetrieben haben?“ Er drückte gegen das schief in den Angeln hängende Gitter. Das Tor bewegte sich nicht. „Haben die das zugemacht?“, murmelte er. Reflexartig griff er nach ihrem Handgelenk. „Komm.“
Sie liefen ein paar Meter weiter, bis zu einer Stelle, wo der Zaun vor einer Sandsteinmauer endete. Die Quader waren zu den Fugen hin abgekantet. Es war leicht, hier hochzuklettern.
Als sie auf der anderen Seite im Gras landeten, fühlte Rafiq sich so lebendig wie lange nicht mehr. Sie kämpften sich durch Unterholz und Brombeerranken, bis zur Rückseite des Hauses. Durch einen klaffenden Riss in der Mauer stiegen sie ins Innere. Es war stockfinster, aber Rafiq fand den Weg auf Anhieb. Es fühlte sich surreal an, fast wie ein Zurückgleiten in die Vergangenheit.
„Warte mal“, bat er. Carmen blieb stehen. „Du musst die Augen zumachen.“
„Was?“ Sie kicherte.
„Warte.“ Er stellte sich hinter sie und hielt ihr mit einer Hand die Augen zu. Der Duft ihrer Haare kitzelte ihn in der Nase und er spürte, wie Hitze in seinem Körper hochstieg.
„Was machst du denn?“, fragte sie.
„Eine Überraschung.“ Jetzt musste er ebenfalls lachen. Eine fiebrige Fröhlichkeit ergriff Besitz von ihm. Seine Finger schmiegten sich fest gegen ihre Haut. „Nicht bewegen bitte. Sonst ist die Überraschung hinüber.“
Er legte den zweiten Arm um ihre Hüfte und
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