Das dunkle Fenster (German Edition)
Kinder zwischen den überwölbten Treppen eines Torhauses. Unten im Hof trieben sich ein paar Touristen herum, doch Nikolaj war sich inzwischen sicher, dass sie sich nicht für ihn interessierten. So wie er auch sonst nichts Verdächtiges hatte entdecken können in den vergangenen Tagen.
Es brachte ihn aus dem Konzept. Er hatte seine Zeichenutensilien mitgenommen, einen Skizzenblock, ein paar Stifte und Kreiden. Der Block ruhte auf seinen Knien, das Papier noch weiß und unberührt. Geistesabwesend starrte er hinunter auf die Stadt. Er war sich absolut sicher gewesen. Sie hätten einfach reagieren müssen. Doch er hatte nicht das geringste Indiz für eine Beschattung finden können. Niemand hatte versucht, sein Hotelzimmer zu verwanzen. Sie waren einfach – verschwunden.
Das ergab alles keinen Sinn. Vielleicht hatte er ja auch die Relation zum normalen Leben verloren, sinnierte er. Vielleicht war es wirklich nur Paranoia gewesen, seine Überreaktion auf eine zufällige Konvergenz von Ereignissen. Er klappte den Skizzenblock zu und legte ihn auf die Ledertasche. Morgen früh würde er auschecken und über Byblos weiterfahren nach Beirut. Eine Küstenrundreise wäre nicht glaubwürdig, wenn er Beirut aussparte. Und dann? Drei oder vier Tage weiter nach Süden, Saida und Tyros. Danach konnte er sich entscheiden, nach Hawqa zurückzukehren. Oder er begann mit der Suche nach einem neuen Refugium, weil Hawqa nicht länger sicher war.
Nikolaj erhob sich von den Treppensteinen und machte zwei Schritte nach vorn. Mit den Ellenbogen stützte er sich auf die aufgeheizten Steine. Schon die Tage zuvor hatte er über mögliche Schlupfwinkel nachgedacht. Europa kam nicht in Frage, das war heißer Boden. Es bestand die Gefahr, erkannt zu werden. Den Polizeibehörden der EU-Mitgliedsländer lag ein immer noch gültiger Haftbefehl gegen ihn vor. Asien war eine denkbare Option. Indien vielleicht, oder Thailand. Er konnte sich in einer der Aussteigerkommunen niederlassen. Niemand würde sich für seine Vergangenheit interessieren. Ja, das war eine Möglichkeit.
Der Gedanke, das Haus in Hawqa aufzugeben, bereitete ihm dennoch fast körperlichen Schmerz. Aber das war gerade das Fatale. Wenn man zuviel Liebe an einen Ort konzentrierte, oder auf einen Menschen. Es nahm einem die Freiheit spontaner Entscheidungen, und damit wurde es zum Sicherheitsproblem.
Er schirmte die Augen mit dem Handrücken gegen die Sonne ab und fragte sich, was hätte anders laufen müssen. So vieles. Vor so langer Zeit. Wann hatte es begonnen sich abzuzeichnen? Das war nicht erst Berlin gewesen. Als Anna etwas mit diesem belgischen Fotografen angefangen und er den Fehler gemacht hatte, es zu ignorieren? Oder als sie begonnen hatten, sich voneinander zu entfremden? Wann warihm die Erkenntnis gekommen, dass es ein Fehler gewesen war, sie zu heiraten? Im Grunde musste er viel weiter in der Zeit zurückgehen. Denn am Anfang stand die israelische Rakete, die unter dem Wagen seines Vaters detoniert war, im Sommer des Jahres 1982.
Das hatte alles geändert. Bis zu diesem Moment war Nikolaj Fedorow, Sohn eines russischen Botschaftsattachés und einer libanesischen Intellektuellen, ein ganz normaler zwölfjähriger Junge gewesen, der später einmal Malerei studieren und in die Fußstapfen seines Vaters hatte treten wollen.
18 Beirut | Libanon
Die Warterei zerrte an den Nerven. Carmen gab sich betont kühl. Rafiq entging nicht, dass sie es bewusst vermied, mehr als unbedingt nötig mit ihm zu reden. Nach der gestrigen Nacht hatte sich nichts geändert, obwohl er das im Stillen gehofft hatte. Sie hielt sich an die Vereinbarung und erwartete, dass er das ebenfalls tat. Sich in die Augen zu sehen, als wäre nichts gewesen. Das war schmerzhaft.
Sie warteten weiter auf Neuigkeiten aus Tripoli. Alle waren in dieser fiebrig-trägen Stimmung gefangen, in der sich jeder Gedanke, jede noch so kleine Handlung nur auf ein einziges Ziel zu konzentrieren scheint.
Seltsam, wie fremd ihm die Stadt geworden war. Das Beirut vor dem Krieg war nicht das Beirut nach dem Krieg. Die Mischung aus Schutt und modernen Glasfassaden, die neuen Hotels und Boutiquen und die Hochglanzclubs – das war nicht mehr der Ort seiner Kindheit.
Er dachte an die Schule in Hamra. Der Winkel hinter der Tankstelle kam ihm in den Sinn, wo sie als Kinder Fußball gespielt hatten, ein alter Parkplatz voller Ölflecken, Grasbüschel zwischen gesprungenen Betonplatten. Sie waren jeden Tag nach der Schule
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