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Das dunkle Fenster (German Edition)

Das dunkle Fenster (German Edition)

Titel: Das dunkle Fenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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nicht zu erkennen. Das Holz hatte über die Jahre ein graues und rissiges Aussehen angenommen, Tangbärte trieben um die Pfosten. Es roch nach Algen und Fischabfällen. Dies war der Ort, den Delacroix ihm beschrieben hatte. Der Wind frischte auf und trieb Salzwasser in feinen Tröpfchen vor sich her. Nikolaj spürte, wie sich ein salziger Film auf seiner Haut bildete. Als die Wellen begannen, über den Steg zu schwappen, trat er ein paar Schritte zurück. Er drehte sich um und ging langsam hinauf zur Straße. Sand knirschte unter seinen Schuhsohlen. Irgendwo weit entfernt kreischten Möwen. Der Himmel färbte sich violett, bald würde die Nacht hereinbrechen.
    Nikolaj blieb stehen und sah herüber zum Wagen, den er zwischen ein paar niedrigen Büschen geparkt hatte. Müdigkeit machte ihm zu schaffen. Nach der Schießerei gestern Abend hatten sie überstürzt das Hotel verlassen und die Nacht schließlich im Auto verbracht. Er wusste nicht, ob der Portier noch die Polizei gerufen hatte. Auf ihrem Weg nach draußen hatten sie die Rezeption jedenfalls leer vorgefunden.
    Carmen hatte er mit Händen und Füßen an den Beifahrersitz gefesselt. Das war nicht sehr bequem für sie, aber er wollte kein weiteres Risiko eingehen. Er fragte sich, wie schon den Tag zuvor, warum er überhaupt das Wagnis auf sich nahm, sie mit nach Zypern zu nehmen. Er konnte sie einfach hier zurücklassen – ob tot oder lebendig, spielte zunächst einmal keine Rolle. Allein konnte er leichter untertauchen, konnte sich auf sich selbst konzentrieren. Carmen war eine tickende Zeitbombe. Trotzdem hatte er keinen Moment daran gedacht, ohne sie zu gehen. Irgendwann zwischen St. Erasmus und Hermel hatte sich sein Entschluss gefestigt. Warum? Warum hatte er so entschieden?
    Weil sie Zeit brauchten. Zeit, die sie hier nicht hatten. Zeit, um miteinander zu reden. Es gab so viele Fragen. Sie repräsentierte ein Stück seiner Vergangenheit, das er nicht wieder loslassen wollte. Es war mit rationaler Überlegung kaum zu erklären. Etwas sagte ihm, dass ihm eine besondere Chance gegeben worden war. Wenn er Carmen gehen ließ, hatte er diese Chance verschenkt, egal was danach passieren mochte.
    Deshalb musste er mit ihr reden – in Ruhe. Sie verstand das noch nicht. Nikolaj würde es erklären müssen, aber dafür brauchte er Zeit. Im Augenblick hasste sie ihn. Das konnte er verstehen. Aber wenn sie mehr Zeit hatten ...
    Vier Stunden noch.
    Mit der Dunkelheit zogen Wolken auf; der Wind hatte weiter aufgefrischt. Es war merklich kühler geworden. Carmen schreckte hoch, als Nikolaj die Tür auf ihrer Seite öffnete. Sie war eingeschlafen und brauchte mehrere Sekunden, um sich zu orientieren. Nikolaj durchschnitt ihre Fußfesseln und fasste sie beim Arm, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Einen Herzschlag lang verspürte sie das starke Bedürfnis, seine Hand einfach abzuschütteln. Doch provokative Gesten würden ihr nicht weiterhelfen. Deshalb unterdrückte sie die Regung.
    Ihre Füße kribbelten schmerzhaft, als das Blut wieder zu zirkulieren begann. Der Sand unter ihren nackten Sohlen fühlte sich kalt an. Sie streckte die Arme aus und machte ein paar Schritte, um das Gleichgewicht wieder zu finden.
    Nikolaj stand einfach da und schwieg. Über seiner Schulter hing die Ledertasche, die sie im Hotelzimmer in Sur ausgeleert hatte. Carmen spürte seine Präsenz, auch als sie ihm den Rücken zuwandte und in die Dunkelheit hinausstarrte. Sie lauschte der Meeresbrandung.
    „Was passiert jetzt?“, fragte sie aus einem plötzlichen Impuls heraus. „War’s das? Erschießt du mich und ziehst deiner Wege?“
    „Ich habe das kurzzeitig in Erwägung gezogen.“
    Seine Stimme klang ausdruckslos, seine Miene ließ keine Gefühlsregung erkennen. Carmen knetete nervös ihre Finger. Sie wusste nicht einzuschätzen, was in seinen Worten ernst war, und was nur Sarkasmus. Unbehaglich wartete sie darauf, dass er noch etwas hinzufügte. Etwas, das diesen letzten Satz relativierte. Sein Schweigen verstärkte ihre Beklemmung.
    „Du hast das in Erwägung gezogen“, wiederholte sie endlich. „Das heißt, jetzt tust du es nicht mehr?“
    „Das letzte Mal, als ich darüber nachgedacht habe, war es ungefähr vier Uhr morgens.“
    Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „Was erwartest du?“, fragte sie tonlos. „Was würdest du tun, wenn du an meiner Stelle wärst?“
    Er schwieg eine Zeitlang.
    „Komm“, sagte er dann, „gehen wir.“
    „Wohin?“
    Vielleicht war es das, was am

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