Das dunkle Fenster (German Edition)
meisten an ihren Nerven zehrte. Die ständige Ungewissheit. Nicht zu wissen, was als nächstes passierte. Es rief Erinnerungen wach, die sie lange verdrängt hatte.
„Hinunter zum Strand“, sagte Nikolaj. „Dort wird uns ein Boot aufnehmen. Sie bringen uns nach Zypern.“
Überrascht blickte sie ihn an. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihre Frage beantworten würde.
„Komm jetzt.“ Er streckte auffordernd die Hand aus, als sei sie ein trotziges Kind.
Carmen gehorchte. Die Finsternis war so undurchdringlich, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Beharrlich zerrte der Wind an ihrer Kleidung. Nikolaj ging dicht neben ihr. Sie konnte ihn atmen hören. Sie hörte seine Schritte, seine Schuhe, die sich in den feuchten Sand gruben.
Warum eigentlich nicht, dachte sie erschöpft. Warum ließ sie sich nicht ein auf sein Spiel? Wenn er sie töten wollte, hätte er längst Gelegenheit dazu gehabt. Sie durchschaute noch immer nicht seine Motive. Aber für den Moment musste sie sich wohl mit der schmalen Sicherheit begnügen, dass sie nicht unmittelbar in Lebensgefahr schwebte.
Mit zusammengekniffenen Augen starrte Nikolaj aufs Meer hinaus. Dann wieder blickte er auf seine Armbanduhr. Die Leuchtzeiger standen auf zwanzig nach elf. Der Wind türmte die See zu schwarzen Wogen und schleuderte sie krachend gegen die Felsen. Nikolaj war unruhig, und seine Unruhe übertrug sich auf Carmen, die dicht an der Abbruchkante des Holzstegs stand und hinab in das Wasser starrte. Gurgelnd und schäumend umspülte es die Pfähle.
„Ganz schön stürmisch“, sagte sie.
Nikolaj runzelte die Stirn. Carmen sprach aus, was er selbst dachte. Er machte sich Sorgen wegen des Wetters. Innerhalb der letzten zwei Stunden hatte der Wind heftig aufgefrischt. Stellte sich die Frage, ob Delacroix bei diesem Seegang überhaupt auslaufen würde. Das Boot, das sie abholen sollte, war seit zwanzig Minuten überfällig.
„Dann hoffen wir, dass kein Unwetter daraus wird“, erwiderte er ohne Überzeugung. Gischt schwappte über den Steg und benetzte seine Schuhe. Carmen wich zurück.
„Hör mal“, sagte sie, „ich würde dir gern einen Vorschlag machen.“ Sie drehte sich um und trat nahe an ihn heran. Schwarz malte sich ihre Silhouette gegen den Nachthimmel.
Nikolaj wartete schweigend.
„Ich habe dieses Spiel satt“, fuhr sie fort. „Wirklich. Dieser Nervenkrieg macht mich krank.“ Ihre Stimme begann zu vibrieren. „Diese drei Tage haben ziemlich an meiner Substanz gezehrt und ich ...“ Sie zögerte. „Weißt du“, fing sie neu an, ohne den Satz zu Ende zu führen, „ich dachte die ganze Zeit, du würdest einfach ein Ende machen, wenn du bekommen hast, was du willst. Aber jetzt ...“ Sie stockte erneut. „Herrgott“, brach es plötzlich aus ihr heraus, „lass mich diesen verdammten Fetzen ausziehen, bitte. Es macht mich wahnsinnig, ich kriege keine Luft in dem Ding.“
„Was?“ Irritiert schüttelte Nikolaj den Kopf.
„Warum nicht?“, schnappte sie.
Er starrte sie an, wusste zuerst nicht, was er darauf antworten sollte. Sie hatte ihm etwas sagen wollen. Aber dieser Ausbruch kam überraschend.
„Ich fürchte“, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel, „das Risiko kann ich nicht eingehen.“
„Ach so. Ich bin ja der Risikofaktor, das hatte ich ganz vergessen.“ Der versöhnliche Tonfall war wie weggewischt. „Dann lass mich hier zurück, verdammt.“
„Ich kann dich aber nicht hier lassen.“
„Okay.“ Nikolaj hörte, wie sie tief Atem holte. „Das ist genau das Problem. Ich verstehe deine Gründe nicht. Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.“ Wieder eine Pause. „Das hat mich Nerven gekostet. Ich dachte, du würdest mich umlegen, wenn du mich nicht mehr brauchst.“
„Vielleicht brauche ich dich aber noch“, gab er zurück. Es ging ihm glatt über die Lippen. Ohne Nachdenken. Im nächsten Augenblick hasste er sich dafür, aber nun stand es im Raum. Er konnte es nicht mehr rückgängig machen.
Carmen schwieg. Nikolaj wartete unbeweglich und hoffte, dass sie weiter sprechen würde. Er brachte es nicht fertig etwas zu sagen, das seine eigene Aussage relativierte.
„Na schön“, konstatierte sie. Ihr Ton blieb überraschend sachlich. „Du willst das Risiko für dich minimieren. Das will ich auch. Ich habe diesen Job als Söldner übernommen, nicht als Überzeugungstäter. Also könnten wir eventuell eine Vereinbarung treffen, die es uns beiden leichter macht?“
„Eine Vereinbarung.“
„Ein
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