Das dunkle Feuer der Nacht: Roman (German Edition)
vorsichtig das fast deckungslose Stück Ast überquerten und durch das Blätterdach auf die Freiheit zuschlichen.
Als sie eine gute Meile zwischen sich und die Jaguar-Wachen gebracht hatten, erlaubte Solange sich endlich, ihrer ungeheuren Freude Ausdruck zu verleihen. Sie hatten es geschafft! Sie hatten ihre Mutter endlich heimgeholt! Sie hätte weinen können vor Glück. Im selben Moment strauchelte der kleine Jaguar jedoch und verwandelte sich in Jasmine, die dadurch beinahe aus dem Blätterdach gefallen wäre. Sie gab aber keinen Laut von sich, da sie selbst als Kind schon sehr gut wusste, dass absolute Stille im Dschungel überlebenswichtig war. Sie hatte die Jaguargestalt noch nie sehr lange beibehalten können, da ihr Vater ein Mensch gewesen war. Wäre sie an dem Tag, als Brodrick gekommen war, in dem Dorf gewesen, dann wäre auch sie mit all den anderen getötet worden.
Sie warteten, während Jasmine auf den Rücken ihrer Schwester kletterte, und weil die Kleine in menschlicher Gestalt war und es viel zu gefährlich wäre, den Weg in den Bäumen fortzusetzen, stiegen sie zum Waldboden herab. Audrey trug die Waffen in einer Tasche um den Nacken, aber trotzdem kamen sie schnell voran. Mit jedem Schritt wurde Solange noch leichter ums Herz. Mama. Sie hatte nachts von ihr geträumt, war mehr als einmal aufgewacht, um nach ihr zu rufen, und konnte es jetzt fast nicht glauben, dass sie sie tatsächlich gefunden hatten.
Die plötzlich eintretende Stille im Blätterdach ließ sie erstarren. Ein Wache haltender Affe rief eine Warnung. Ein Vogel kreischte. Solange blieb fast das Herz stehen, aber sie reagierte trotzdem augenblicklich. Sie verwandelte sich blitzschnell und nahm den Beutel mit den Waffen von Audreys Nacken, während sie Juliette ein Zeichen gab, mit Jasmine zu verschwinden. Die ältere Cousine würde zum Wasser gehen, um keine Spuren zu hinterlassen, während Audrey und Solange die Verfolger aufhalten würden, um Juliette mit der kleinen Jasmine eine Chance zur Flucht zu verschaffen.
Solange hockte sich auf den Boden und griff schnell in den Beutel, um eine Pistole hervorzuholen. Die Hand ihrer Mutter hielt sie jedoch zurück. Auch sie hatte ihre menschliche Gestalt angenommen. Sehr sanft zog sie an der Waffe in der Hand ihrer Tochter, aber Solange schüttelte nur störrisch den Kopf und hielt sie fest.
»Gib sie mir, Kleines!«, bat Sabine.
Solange schaute ihre Mutter an, sah die Prellungen und Narben, den deformierten Brustkorb und die anderen Spuren der Brutalität, die Sabine in diesen letzten vier Jahren erduldet hatte. »Geh mit deiner Tante, Kind!«
»Nein. Du gehst mit ihr. Ich bin eine gute Schützin.«
»Du kannst sie nicht alle erwischen. Tu, was ich dir sage!« Sabine drückte für eine Sekunde ihre Hand. »Lass dich niemals lebend fassen, Solange!«, flüsterte sie. »Ich liebe dich, meine Kleine. Geh jetzt mit deiner Tante!« Sie schob Solange auf ihre Schwester zu. »Und ich danke euch allen.«
Eine furchtbare Erkenntnis kam Solange. Sabine würde versuchen, die Angreifer abzuwehren, damit ihre Angehörigen sich in Sicherheit bringen konnten. Und sie würde hier sterben. Solange schüttelte den Kopf, um protestierend aufzuschreien, aber Audrey hielt ihr mit erstaunlicher Kraft den Mund zu, schlang den anderen Arm um ihre Taille und zog sie mit sich.
Solange schrie und schrie, auch wenn kein Laut aus ihrer Kehle kam. Sie hörte die Schüsse und dann die schrecklichen Geräusche miteinander kämpfender Jaguare. Sie schrie erneut und rief nach ihrer Mutter. Doch wieder kam kein Ton über ihre Lippen, überhaupt nichts. Sie konnte nicht weinen, und sie konnte niemanden ansehen. Der Schmerz ging so tief, dass es keinen angemessenen Weg gab, ihm Ausdruck zu verleihen.
Sie merkte kaum, dass sie sich vor und zurück wiegte und dabei den Quilt an ihre Brust drückte, als die Erinnerungen nicht von ihr weichen wollten. Wie so oft hatten sie völlig Besitz von ihr ergriffen. »Mama«, flüsterte sie. »Ich wünschte, ich wäre mit dir gegangen.«
An jenem Tag war die kaltherzige Solange geboren worden; die liebevolle, sanfte gab es nicht mehr. Sie hatte ihre Mutter nie wieder in den Armen halten können, nicht einmal ihren Leichnam. Die Jaguarmänner hatten ihn an einem geheimen Ort verbrannt, und so gab es nicht mal eine Stelle, an der Solange eine Gedenkstätte hätte errichten können.
Danach trainierte sie tagtäglich, um das zu werden, was sie heute war – eine Killerin. Und immer
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