Das dunkle Labyrinth: Roman
keine Augen.«
»Trotzdem ist es Blödsinn, nicht zu warten, bis es dunkel ist«, knurrte Clacton.
»Was, wenn sie nich’ so lange auf der Brücke stehen bleiben wollte?«, entgegnete Jones. »Vielleicht war sie nich’ so entgegenkommend.« Er schenkte sich Tee ein, wobei er die Kanne bewusst ganz leerte.
»Wenn er die Absicht hat, sie ins Wasser zu stoßen, richtet er es doch bestimmt so ein, dass sie zur rechten Zeit auf der Brücke sind!«, rief Clacton wütend, den Blick auf die Teekanne gerichtet, und postierte sich jetzt so vor dem Kamin, dass Jones keine Wärme mehr abbekam.
»Und natürlich klappen solche Pläne wie am Schnürchen«, sagte Jones sarkastisch. »Wie ich gesehen hab!«
Die anderen brachen in schallendes Gelächter aus. Anscheinend blamierte Clacton sich nicht zum ersten Mal. Monk war immer noch darum bemüht, sich einzuarbeiten, nicht nur in die Einzelheiten seiner Aufgaben, sondern auch – und das war bisweilen noch wichtiger – in die Beziehungen zwischen den Männern, ihre Stärken und Schwächen. Menschenleben konnten davon abhängen, denn der Fluss war gefährlicher als die Stadt. Selbst die schlimmsten Elendsviertel mit ihren windschiefen, undichten Wohnhäusern, ihren Sackgassen und gelegentlichen Falltüren boten einem festen Boden unter den Füßen und Luft zum Atmen. Dort gab es keine Gezeiten, die ständig stiegen und sanken, die Stufen mit schlüpfrigem Schmutz bedeckten, alles Mögliche an-und fortschwemmten. Und die Stadt war weder voller Strömungen, die einen in die Tiefe zogen, noch verbargen sich dort Wracks dicht unter der Oberfläche, die einen Schiffsrumpf aufschlitzen konnten.
»Wir wissen es nicht«, stellte Monk fest. »Mary Havillands Vater ist kürzlich gestorben. Laut Aussage ihrer Schwester war Mary davon überzeugt, dass er ermordet wurde. Diese Möglichkeit muss ich untersuchen. Wenn es so war, dann wurde vielleicht auch sie ermordet. Oder aber ihrem und Toby Argylls Tod ging ein Streit voraus, der mit einem tragischen Unfall endete, nicht mit seinem oder ihrem Selbstmord.«
Kelly legte die letzten Dokumente auf den Tisch. »Dann könnten wir sie ja ordentlich beerdigen lassen. Das wär doch bestimmt auch der Wunsch ihrer Angehörigen.«
»Ja«, bestätigte Monk.
»Aber wenn es kein Mord war, geht uns die Sache gar nix an.« Clacton sah erst Kelly, dann Monk an.
Monk spürte, wie erneut Zorn in ihm hochstieg. Eines Tages würde er für klare Verhältnisse sorgen müssen. »Jetzt ist es aber meine Aufgabe«, erklärte er mit einem scharfen Unterton, der Clacton und jeden anderen warnte, nicht weiterzubohren. »Wenn ich die Ermittlungen abgeschlossen habe, teile ich die Ergebnisse jedem mit, der sie kennen muss: Angehörige, Kirche, Magistrat. Bis dahin kümmern Sie sich um den Diebstahl bei Horseferry Stairs, und danach sehen Sie zu, dass Sie die verlorene Barke von Watson and Sons aufspüren.«
Er wandte sich wieder an Orme, um ihm für die nächsten Stunden das Kommando zu übertragen, da er selbst jetzt zu Mary Havillands Haus aufbrechen musste, und bat ihn, Superintendent Farnham jede gewünschte Auskunft zu erteilen, falls dieser sich nach ihm erkundigte.
»Jawohl, Sir!«, sagte der Polizist ohne zu zögern. »Wir müssen schließlich wissen, ob es ein Unfall, Mord oder Selbstmord war. Wenn die arme Frau wegen des Todes ihres Vaters die Nerven verloren hat, werden sie vielleicht nachsichtiger mit ihr sein.«
In Gedanken immer noch mit dieser Hoffnung beschäftigt, trat Monk die lange Fahrt mit der Droschke zu Mary Havillands Adresse in der Charles Street an.
Das Haus war nicht protzig, verriet aber durchaus beträchtlichen Wohlstand. Dahinter gab es Stallungen für Kutschen und Pferde, sodass man davon ausgehen konnte, dass seine Bewohner Annehmlichkeiten gewohnt waren. Wie Monk erwartet hatte, waren die Vorhänge zugezogen, und über der Tür hing ein Kranz. Jemand hatte sogar Sägespäne auf der Straße ausgestreut, um das Hufgetrappel zu dämpfen.
Ein Page, der kaum älter als achtzehn Jahre sein konnte, öffnete die Tür. Sein Gesicht war so weiß, dass seine Sommersprossen deutlich hervorstachen, und seine Augen waren gerötet. Es dauerte eine Weile, bis er beim Anblick des Fremden seine Sprache wiederfand. »Ja, Sir?«
Monk stellte sich vor und bat, den Butler sprechen zu dürfen. Er wusste bereits, dass kein Familienmitglied mehr in dem Haus lebte. Von Jenny Argyll hatte er erfahren, dass Mary ihre einzige Verwandte gewesen war.
Innen
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