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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Waterloo Bridge«, antwortete er. »Gewissermaßen waren es sogar zwei. Ein junger Mann und eine Frau sind zusammen hinuntergestürzt, nur wissen wir nicht, ob es teilweise ein Unfall war oder nicht.«
    Erleichterung huschte über ihr Gesicht, gleich darauf Mitgefühl. »Wie traurig! Bist du hingerufen worden?«
    »Nein, wir waren praktisch schon dort. Wir haben gesehen, wie es geschah.«
    Sie lächelte ihn zärtlich an und strich mit ihren Fingern über sein Gesicht. Vielleicht war ihr rechtzeitig eingefallen, dass ihre Hände staubig waren. Aber warum hatte sie zu dieser späten Stunde überhaupt noch gearbeitet? Womöglich, um sich von ihren Sorgen um Monk abzulenken?
    »Das ist ja schrecklich«, sagte sie düster. »Man muss schon sehr verzweifelt sein, wenn man in dieser Jahreszeit in den Fluss springt.«
    »Es ist immer tödlich, egal, welche Jahreszeit es ist«, erwiderte er. »Die Gezeiten haben einen starken Sog, und das Wasser ist schmutzig.« Einer anderen Frau gegenüber hätte er seine Wortwahl gemäßigt und nicht so unverhüllt von sterben gesprochen, doch Hester hatte mehr Sterbende und Tote gesehen als er. So bedrückend die Arbeit eines Polizisten bisweilen auch sein mochte, einem Vergleich mit dem Schlachtfeld oder den Verlusten wegen Wundbrands oder Fiebers hielt sie nicht stand.
    »Das ist mir schon klar«, entgegnete sie, »aber glaubst du, dass sie es wussten, bevor sie sprangen?«
    Plötzlich war es auf eindringliche und schmerzhafte, ja qualvolle Weise Realität: Mary Havilland war eine Frau wie Hester gewesen, herzlich und voller Emotionen, fähig, zu lachen und Schmerz zu empfinden – jetzt war sie nur noch eine leere Schale, aus der die Seele geflohen war. Ein Niemand. Er legte Hester die Hände auf die Schultern, zog sie zu sich heran und hielt sie ganz fest an sich gedrückt, spürte, wie ihr schmaler Körper sich an den seinen schmiegte, als könnte sie ihre Knochen beliebig verformen.
    »Ich weiß nicht, ob sie springen wollte und er versuchte, sie daran zu hindern«, flüsterte er in ihr Haar hinein, »oder ob er sie gestoßen hat und sie sich an ihn klammerte und ihn mit in die Tiefe riss oder ob sie ihn töten wollte. Ich habe keine Ahnung, wie ich das herausfinden soll, aber ich werde es irgendwie schaffen.«
    Schweigend hielt sie ihn noch ein paar Augenblicke länger fest, dann löste sie sich von ihm und sah ihn an. »Du bist ganz durchgefroren«, stellte sie sachlich fest. »Und ich nehme nicht an, dass du was gegessen hast. Die Küche ist noch nicht ganz fertig, aber ich habe eine heiße Suppe und frisches Brot für dich und einen Apfelkuchen, wenn du möchtest.«
    Sie hatte Recht. Nach der langen Fahrt von der Waterloo Bridge nach Wapping und der noch viel kälteren Überquerung des Flusses fror ihn entsetzlich. Das Sandwich des Butlers war schon lange vergessen. Monk aß und erkundigte sich zwischen den Bissen nach ihrem Tag und den Fortschritten beim Herrichten des Hauses. Dann lehnte er sich zurück, in dem Bewusstsein, wie warm ihm in jeder Hinsicht war, auf die es ihm ankam.
    »Wer war sie denn?«, fragte Hester.
    Er wollte nicht mehr daran denken, doch ihm war klar, dass Hester das nicht zulassen würde. Sie hatte ihm seine Gefühle angesehen. So gut gekannt zu werden war zugleich wohltuend und beunruhigend. Vor Jahren noch hätte ihn das entsetzt. Er hätte es als Verletzung seines persönlichen Bereichs, wenn nicht sogar als Bedrohung seiner Sicherheit empfunden. Jetzt erstaunte ihn, wie schnell er sich daran gewöhnt hatte. Nie hätte er erwartet, dass es ein so wunderbares Gefühl sein würde, nicht allein zu sein, sich nicht erklären zu müssen, weil man bereits verstanden worden war, und so angenommen zu werden, wie man war.
    Es bedeutete aber auch, dass er sich nicht verstecken konnte, selbst dann nicht, wenn ihm danach war. Es gab kein Ausweichen mehr vor den hässlichen oder gefährlichen Fragen, vor den Antworten, die er am liebsten nicht wüsste, denn sie beide waren damit konfrontiert, nicht nur er allein.
    »Wer war sie, William?«, wiederholte Hester.
    »Mary Havilland«, antwortete er. War es der Mühe wert, sich der Frage, warum es ihm so viel ausmachte, zu entziehen? Nun, das würde ihm keinen Frieden bringen, denn es wäre im Grunde eine Lüge und hätte zur Folge, dass sich eine Tür zwischen ihnen schließen würde, und das wollte er auf keinen Fall. Hatte jemand Mary ausgesperrt? Jemand, den sie liebte? Ihr Vater vielleicht? Hatte er sich

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