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Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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um mit Monk Schritt zu halten. »Die großen Tunnel, was sie jetzt buddeln, regen die Leute da unten auf. Die Tosher sind nich’ glücklich!«
    »Tosher« waren Männer, die davon lebten, dass sie in den Abwasserkanälen nach kleinen Wertgegenständen – darunter eine beträchtliche Anzahl von Schmuckstücken – suchten, die irgendwie dort hinunterfielen. Aus Angst vor den Ratten zogen sie in der Regel in Gruppen los, denn die in riesigen Verbänden in den Kloaken hausenden Nager konnten einen binnen kürzester Zeit bis zu den Knochen auffressen, wenn man das Pech hatte, auszurutschen und verletzt liegen zu bleiben. Zudem bestand jederzeit die Gefahr, dass sich von den Abfällen aufsteigendes Methangas zu einer Blase ansammelte oder eine Flutwelle sie überraschte, wenn oben sintflutartiger Regen fiel.
    »Warum sind die Tosher unglücklich?«, fragte Monk. »Es wird doch weiterhin Abwasserkanäle geben, nur eben bessere.«
    »Weil alles anders wird«, erklärte Scuff mit übertriebener Geduld. »Jeder hat seine Straße, seinen Bezirk, wenn Sie so wollen – wo Sie doch irgendwie auch so was wie’n Polizist sind.«
    »Ich bin ein vollkommen normaler Polizist«, verteidigte sich Monk.
    Scuff reagierte auf diese Behauptung mit dem ihr gebührenden Schweigen. Seiner Auffassung nach war Monk ein gefährlicher Anfänger, der Durbans Stelle nur aus fehlgeleiteten Treuegefühlen heraus angenommen hatte. Für die Arbeit hier unten war er völlig ungeeignet und darum auf Führung oder gelegentlichen Schutz von jemandem wie Scuff angewiesen, der wusste, was er tat. Er, Scuff, war am Fluss geboren, und mit seinen neun Jahren – oder vielleicht auch zehn, da war er sich nicht ganz sicher – wusste er schon eine ganze Menge und war stolz darauf, täglich dazuzulernen. Aber es war natürlich eine gewaltige Bürde, auf einen erwachsenen Mann aufpassen zu müssen, der sich einbildete, er wüsste viel mehr als er.
    »Wird es einen Kampf um die neuen Abschnitte geben?«, fragte Monk.
    »Klar doch«, meinte Scuff und schnupperte. »Und viele werden woanders hinziehen müssen. Wie würde es Ihnen denn gefallen, wenn so blöde Riesenmaschinen kommen und Ihre ganze Straße niederwalzen täten, ohne dass Ihnen einer was sagt, hä?«
    Scuff meinte die Gemeinschaften gesetzestreuer Armer, die am Rande der Verelendung lebten, und die der halbkriminellen Unterwelt, die in der Kanalisation, den Tunneln und Höhlen unter den Straßen Londons hausten. Einen neuen Tunnel durch einen alten zu treiben, das war so, als stocherte man mit einem heißen Schürhaken in einem Wespennest herum. Orme hatte diesen Vergleich einmal gezogen.
    »Ich weiß«, murmelte Monk. »Mr. Orme hat mich schon gewarnt. Aber ich tue das nicht allein, weißt du.« Er spähte durch den sich weiter verdichtenden Nebel, in der Hoffnung, die Lichter eines Standes zu erkennen, der Essen oder vielleicht sogar ein heißes Getränk verkaufte. Die Kälte war wie eine Schraube, die sich unerbittlich in den Körper bohrte und den letzten Rest Wärme daraus vertrieb. Wie schaffte es bloß ein Dreikäsehoch wie Scuff, der doch nur aus Haut und Knochen bestand, zu überleben? Die klagenden Rufe der Nebelhörner auf dem Fluss wurden jetzt häufiger, doch in dieser Brühe war es unmöglich, ihre genaue Herkunft auszumachen.
    Scuff schnupperte erneut. »Dort hinten verkauft einer hei ße Kastanien«, meldete er voller Hoffnung.
    »Heute Abend?« Monk hatte seine Zweifel. Welcher Händler zog denn schon bei einem solchen Wetter durch die Gegend, wenn niemand seinen Karren sehen konnte?
    »Charlie«, sagte Scuff, als ob damit alles erklärt wäre.
    »Glaubst du?«
    »Klar.«
    »Ich sehe nichts. Welche Richtung?«
    »Ich brauch nix sehen. Weiß auch so, wo er sein müsste. Mögen Sie Kastanien?« Scuffs Stimme war voller Vorfreude.
    »Im Moment würde ich alles essen, solange es heiß ist. Natürlich mag ich Kastanien.«
    Scuff zögerte, als überlegte er, ob er feilschen sollte, doch dann gewann die Barmherzigkeit die Oberhand. Monk war auf jede nur mögliche Hilfe angewiesen. »Ich führ Sie hin«, bot er großzügig an.
    »Danke. Möchtest du vielleicht mit mir essen?«
    »Hab nix dagegen.«

3

    Die Klinik in der Portpool Lane war groß, ein verschachteltes Gebäude mit vielen Einzelzimmern. Allerdings fehlten ihr die offenen Stationen anderer Krankenhäuser, deren weitläufige Korridore den Schwestern die Arbeit erleichterten. Doch dafür genoss sie den wichtigsten Vorteil, der einer

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