Das dunkle Labyrinth: Roman
woran sich rütteln ließe. Monk erhob sich. Er fühlte sich innerlich leer. »Danke.«
Runcorn stand ebenfalls auf. »Geben Sie auf?« Es klang wie eine Herausforderung. Unterschwellig schwang allerdings auch Verzweiflung mit.
»Nein!«, erklärte Monk bestimmt, ohne wirklich zu wissen, wie er das meinte. Zum einen wollte er sich Runcorn widersetzen, vor allem aber war er einfach nicht bereit aufzugeben. Allerdings hatte er keine Ahnung, wo er noch nach Beweisen suchen konnte. Er fühlte sich dem Unvermeidlichen ausgeliefert.
»Informieren Sie mich, wenn Sie irgendwas finden«, sagte Runcorn mit bedrückter Miene. »Und...«
»Ja, das werde ich«, versprach Monk. Er bedankte sich und ging, bevor ihre Begegnung noch peinlicher werden konnte. Es gab nichts mehr, was sie einander noch sagen konnten, und ihr kurzer Waffenstillstand hielt umso besser, je weniger sie ihn auf die Probe stellten.
Monk kehrte nach Wapping zurück und verbrachte den Nachmittag mit allgemeinen Verwaltungsaufgaben, die auch zu seiner neuen Position gehörten. Routinetätigkeiten waren ihm ein Gräuel – insbesondere das Abfassen von Protokollen und mehr noch die Lektüre der Berichte anderer -, doch er konnte es sich nicht leisten, weniger als sein Bestes zu tun. Jeder Irrtum, jedes Versehen konnten zu seinem Scheitern führen. Kurz, er war zum Erfolg verdammt. Er hatte keine anderen Fähigkeiten außer die in seinem Beruf erforderlichen, und er hatte nach Callandra Daviots Weggang keine Freunde mehr, die ihn finanziell unterstützen könnten oder würden.
Um fünf Uhr herrschte völlige Dunkelheit. Schlimmer noch, von Osten her wälzte sich dichter Nebel heran und hüllte den Fluss so gnadenlos ein, dass kein Schiffer es wagen würde, ihn zum anderen Ufer überzusetzen. Die Straßenlampen sahen in einem matten, verschwommenen Gelb wie glimmende Gespenster aus, die nach spätestens zwanzig Metern im trüben Einerlei verschwanden. Das verlorene Heulen von Nebelhörnern auf dem Fluss durchbrach hin und wieder die Stille, sonst war kaum etwas zu hören außer dem stetigen Tropfen von Wasser und dem Klatschen der Wellen gegen die Steinstufen und die Ufereinfassung.
Um halb sechs brach Monk zu dem langen Fußweg zur London Bridge auf, wo er, wenn er großes Glück hatte, einen Hansom finden würde, der ihn nach Hause oder wenigstens bis Southwark Park mitnahm.
Er knöpfte seinen Mantel bis oben zu, schlug den Kragen hoch und marschierte los.
Er war etwa eine Viertelmeile gegangen, als er jemanden hinter sich spürte. Unmittelbar vor einer nebelumhüllten Lampe blieb er stehen und wartete.
Ein kleiner Junge erschien in dem blassen Lichtkegel. Soweit es sich in den Nebelschwaden beurteilen ließ, hatte er das Gesicht eines Neunjährigen. Bekleidet war er mit einer langen Jacke und zwei nicht zueinander passenden Stiefeln, aber wenigstens musste er auf diesem eisigen Straßenpflaster nicht barfuß laufen.
»Hallo, Scuff!«, rief Monk erfreut. Der »Mudlark«, wie die heimatlosen Kinder genannt wurden, die am Fluss lebten, war ihm im Maude-Idris- Fall von großer Hilfe gewesen. Seitdem hatte er ihn immer wieder, wenn auch stets nur flüchtig, gesehen. Zweimal hatten sie eine Fleischpastete miteinander gegessen. Heute sah er ihn zum ersten Mal mit Stiefeln. »Neuer Fund?«, fragte er und bewunderte sie ausgiebig.
Der Junge hatte ihn jetzt erreicht. »Einen hab ich gefunden, einen hab ich gekauft.«
Monk setzte sich wieder in Bewegung. Es war zu kalt, um länger stehen zu bleiben. »Wie geht’s dir?«, fragte er freundlich.
Scuff zuckte mit den Schultern. »Ich hab Stiefel. Alles in Ordnung mit Ihnen?« Bei seiner Frage klang Sorge durch. Scuff hielt Monk für einen unbedarften Stadtmenschen, der sich am Fluss nur in Gefahr brachte, und er machte daraus keinen Hehl.
»Kann nicht klagen, danke«, antwortete Monk. »Möchtest du eine Fleischpastete, wenn wir irgendwo einen Laden finden, der offen hat?«
»Werden wir nich’«, erwiderte der Junge. »Das wird ein strenger Winter. Da muss man auf sich aufpassen. Es wird richtig schlimm.«
»Es ist jeden Winter schlimm«, entgegnete Monk. Er konnte es sich nicht leisten, zu lange beim Elend anderer zu verweilen, die im Freien arbeiteten und schliefen, denn er hatte keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Was half denn schon eine warme Pastete, die er alle heiligen Zeiten einem kleinen Jungen kaufte?
»Das ist nicht dasselbe!«, rief Scuff, der immer mal wieder schnell laufen musste,
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