Das dunkle Labyrinth: Roman
lassen und ihr Gesicht mit einem Ausdruck von Unzufriedenheit gezeichnet. Nun, vielleicht blieb das nicht immer so. Zwei Monate hingebungsvoller Arbeit, die ihr die verblüffende Erkenntnis beschert hatte, dass sie tatsächlich gebraucht und gemocht wurde, hatten erste Anzeichen einer Veränderung herbeigeführt. Freilich trug sie weiterhin ihre ältesten Kleider, die von guter Qualität, aber längst aus der Mode waren. Die neueren Sachen blieben zu Hause und wurden nur zu den immer seltener werdenden Ausflügen in die Gesellschaft hervorgekramt. Ihren Mann verwirrte und ärgerte es, dass sie jetzt die »guten Taten« dem Vergnügen vorzog, aber sie ließ sich dadurch nicht mehr beirren. Die Zeiten waren vorbei, in denen sie geglaubt hatte, er hätte das Recht verdient, ihr Glück zu bescheren, und sie sprach höchst selten über ihn. Wenn sie außerhalb der Klinik noch andere Freunde hatte, verlor sie auch über sie kein Wort, es sei denn, sie ließen sich vielleicht zu einer Spende für den guten Zweck überreden.
»Guten Morgen, Claudine«, sagte Hester, um einen fröhlichen Ton bemüht. »Wie geht es Ihnen?«
Für belanglose Nettigkeiten war Claudine nicht zu haben. »Guten Morgen«, antwortete sie knapp, da sie immer noch unschlüssig war, ob sie Hester mit ihrem Vornamen ansprechen sollte oder nicht. »Mir geht es sehr gut, danke. Aber ich fürchte, bei diesem Wetter müssen wir damit rechnen, dass viele an Bronchitis und sogar Lungenentzündung erkranken. Gestern Nacht haben wir eine mit einem Messerstich reinbekommen. Dass das dumme Mädchen ausgerechnet an der Fleet Row arbeiten musste! Sie ist doch nicht ohne Verstand auf die Welt gekommen!«
»Können wir sie retten?«, fragte Hester besorgt, ohne zu merken, dass sie sich immer noch als Teil der Klinik bezeichnete.
»O ja«, erwiderte Claudine etwas selbstgefällig angesichts ihrer frisch erworbenen medizinischen Kenntnisse, auch wenn sie sie eher Beobachtungen verdankte als eigener Erfahrung. »Ich komme wegen Bettwäsche. Im Augenblick schaffen wir das noch, aber Sie werden Margaret bald um Geld bitten müssen. Wir werden mindestens ein Dutzend Garnituren brauchen, und selbst das wird kaum reichen.«
»Kann das noch ein paar Wochen warten?« Hester warf einen Blick auf die Zahlenreihen vor sich. Eigentlich hätte sie Claudine längst sagen müssen, dass sie zu arbeiten aufhören würde, aber sie brachte es einfach nicht übers Herz. »Drei Wochen vielleicht«, meinte Claudine. »Zwei Garnituren kann ich von zu Hause mitbringen, aber wir haben keine zwölf.«
»Danke«, seufzte Hester. Und das kam aus tiefstem Herzen. Wenn Claudine Sachen aus dem eigenen Haus für Straßenmädchen opferte, nachdem sie sich noch vor drei Monaten vor solchen Menschen geekelt hatte, dann war das ein Sprung über den eigenen Schatten. Die Wohltätigkeit, die sie bis vor kurzem gewöhnt gewesen war, war von der diskreten Art und nicht wirklich mit Mühe verbunden gewesen: Gleichgesinnte Damen veranstalteten Feiern oder Gartenpartys, um Geld für ehrbare Personen oder hilfsbedürftige Fieberkrankenhäuser, Missionen oder verarmte Familien zu sammeln. Ein tief greifender Einschnitt in ihrem privaten Leben hatte bei Claudine zum totalen Bruch mit ihrer bisherigen Existenz geführt. Was das gewesen war, hatte sie niemandem anvertraut, und Hester hatte sie auch nie danach gefragt.
Claudine wandte sich zum Gehen. »In einer halben Stunde ist das Frühstück fertig«, kündigte sie an. »Sie sollten was essen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie den Raum und schloss die Tür hinter sich.
Lächelnd beugte sich Hester wieder über ihre Zahlen.
Als Nächste kam Margaret Ballinger herein. Ihr Gesicht war von der Kälte ganz rot, aber nichts an ihrem Auftreten verriet, dass sie fror. Sie strahlte eine Zuversicht aus, eine ungespielte Heiterkeit, wie sie nur denjenigen zu eigen ist, die in sich ruhen, glücklich sind und von äußeren Umständen allenfalls am Rande berührt werden.
»Frühstück ist fertig«, verkündete sie fröhlich. Sie wusste, dass Hester zu arbeiten aufhören würde, weigerte sich aber, daran zu denken. »Und Sutton ist da. Er möchte mit Ihnen sprechen. Er wirkt etwas … besorgt.«
Hester stand sofort auf. Sutton war der Rattenfänger, der ihnen im letzten Herbst unter Todesgefahr geholfen hatte. Was sie auch für ihn tun konnte, nichts würde zu viel sein. Er brauchte sie nur zu bitten. »Fehlt ihm etwas?«
»Er ist nicht verletzt …«,
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