Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das dunkle Labyrinth: Roman

Das dunkle Labyrinth: Roman

Titel: Das dunkle Labyrinth: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
wenn Sie wirklich wissen wollen, was passiert is’, dann gehen wir am besten unter den Themsetunnel und sehen zu, dass wir Leute auftreiben, die sich keine Hoffnung mehr auf Arbeit machen und auch nich’ mit irgendwem zusammenleben, der rausgeworfen werden kann.« Er hielt inne und musterte sie kritisch. »Aber so können Sie unmöglich runter! Wenn ich Sie mitnehme, müssen Sie aussehen wie wir. Wenn ich Ihnen Klamotten von mir mitbringe, sind Sie dann bereit, sich als mein Lehrjunge auszugeben?«
    Im ersten Moment schreckte Hester zurück, aber dann musste sie grinsen. »Ja«, antwortete sie nüchtern, »natürlich bin ich das. Ich binde mir das Haar zurück und ziehe eine Mütze darüber.« Dass ein bloßer Wechsel der Ausstattung genügen sollte, um für den Lehrling eines Rattenfängers gehalten zu werden, war eine über alle Maßen unerfreuliche Vorstellung. Doch hätte sie eine fraulichere Figur und vollere Züge gehabt, hätte sie oben bleiben müssen.
    Sie musste wieder an die ausgemergelten und vorzeitig gealterten Gesichter der Frauen von gestern denken, denen jede Farbe und alles Weiche geraubt worden war, und schon erschien ihr ihre Eitelkeit nicht nur lächerlich, sondern widerwärtig. »Ich werde bereit sein«, versprach sie mit fester Stimme. »Wann geht es los?«
    »Ich komm zu Ihnen.« Sutton überlegte. »Am besten zum Frühstück. Wir fangen früh an. Nicht, dass das unter der Erde einen großen Unterschied ausmacht.«
    Hester wusste, dass ihm schon die Worte »unter dem Fluss« auf der Zunge gelegen hatten und er sich das gerade noch verbissen hatte, damit sie keine Angst bekam, nachdem sie so ausführlich über Einstürze, Überflutungen und Gas gesprochen hatten.
    »Ich werde auf Sie warten«, versprach sie lächelnd. Sie sah ihm in die Augen und bemerkte darin Gewitztheit und einen Funken Bewunderung, und das freute sie über alle Maßen.
     
    Die Kleider, die Sutton Hester mitbrachte, waren frisch gewaschen, aber abgewetzt und schlecht geflickt. Gleichwohl fand Hester sie bequemer als erwartet. Ohne Röcke kam sie sich freilich merkwürdig nackt vor. Selbst auf dem Schlachtfeld war sie es gewohnt gewesen, Rock und Korsett zu tragen, und sie hatte sich stets maßlos darüber geärgert, weil das Gehen darin vor allem bei Wind und Wetter beschwerlich war. Hosen waren wunderbar, auch wenn sie sich darin sehr liederlich fühlte.
    Das Haar zu einem straffen Knoten zusammenzubinden und verschwinden zu lassen, war nicht schwierig gewesen, aber es schmeichelte ihrem Gesicht gewiss nicht besonders. Egal, es ging nicht anders. Eine flache Mütze, die sie über die Ohren zog, verdeckte ohnehin alles. Außerdem hatte Sutton daran gedacht, einen dicken Wollschal mitzubringen, der sie wärmte und ihr ein Gefühl vermittelte, irgendwie doch nicht nackt zu sein. Die Ausstattung wurde vervollständigt durch einen Mantel, der ihr fast bis zu den Knien reichte, und ein Paar fürchterlich harte, abgetragene Männerstiefel.
    Sie verließ das Zimmer, in dem sie sich umgezogen hatte, etwas verlegen wegen des unbeholfenen Gangs, den die zu großen Stiefel ihr aufzwangen, und ausgerechnet darin musste sie sich durch den schmalen Flur zur Treppe wagen.
    »Das is’ ja’n richtiges Wunder!«, rief Sutton anerkennend. »Auf geht’s, Snoot! Jetzt gibt’s was zu tun!«
    Auf der Straße erklärte sie ihm, was sie und Rose Applegate in Erfahrung gebracht und was sie daraus gefolgert hatten.
    »Das is’ komisch«, erwiderte Sutton. »Hat sie da unten tatsächlich nach Bächen und so was gesucht, oder wollte sie rausfinden, was ihr Vater wusste? Falls er wirklich was wusste und sie ihn deswegen umgebracht haben. Aber wozu? Dass dort Bäche sind, is’ kein Geheimnis. Und wenn, dann müssten sie doch dankbar sein, denn wenn man einen anbohrt und die Gänge überschwemmt werden, dann erfährt es die ganze Welt!«
    »Es ergibt tatsächlich keinen Sinn«, bestätigte sie etwas au ßer Atem. Um mit Sutton Schritt halten zu können, musste sie schneller gehen, als sie es gewohnt war. »Es muss etwas Größeres dahinterstecken, von dem wir nichts wissen. Entweder das, oder jemand ist entsetzlich dumm.«
    Er bedachte sie mit einem skeptischen Grinsen, das seine Zweifel an ihrer letzten Mutmaßung nur allzu deutlich verriet.
    Hester ging nicht darauf ein. Dass der Sachverhalt so leicht sein könnte, glaubte sie im Grunde auch nicht.
    Sie fuhren wieder mit dem Omnibus, diesmal zum Nordeingang des Tunnels in Wapping. Es verblüffte

Weitere Kostenlose Bücher