Das dunkle Labyrinth: Roman
Hester, dass er sich in einem Gebäude befand, das so groß und prächtig war, dass man sich fast in einem Konzertsaal wähnen konnte. Sie warf Sutton einen Seitenblick zu, als dieser Snoot hochhob und feierlich über eine kreisförmig angelegte Treppe zur unteren Ebene trug, wo der eigentliche Tunnel in eine Art Vorhalle mündete. Zu ihrer Verwirrung begriff Hester, dass von hier kein Fahrzeug ins Freie gelangen konnte. Der einzige Weg nach oben oder unten war die große Treppe.
Sutton setzte Snoot wieder ab, und der kleine Hund trottete brav bei Fuß über den gepflasterten Tunneleingang. Dank der vielen Fenster war hier ausreichend Licht vorhanden, doch Hester war bereits klar, dass bald das einzige Licht nur noch von Gaslampen gespendet würde, sobald sie etwas tiefer ins Innere des Tunnels vordrangen.
»Bleiben Sie dicht bei mir«, warnte Sutton. »Hier unten wimmelt es von Menschen. Die meisten sind harmlos, aber das Leben ist schwer, und dann kämpft man um jeden Happen oder einen halben Meter Platz. Tun Sie also nichts anderes als die Augen offen halten.«
Hester hielt sich gehorsam einen Schritt hinter ihm. Das Licht wurde zunehmend matter und die Luft dunstig. Hester bemerkte eine unangenehme Feuchtigkeit auf der Haut und einen anderen Geruch. Die Decke war hier höher, als sie erwartet hatte, und schon nach wenigen Metern verlor sie sich in der Dunkelheit, was in Hester ein Gefühl von Eingeschlossensein auslöste. Sie wusste, dass sich nur ein bisschen weiter oben die tonnenschweren, schmutzigen Wassermassen der Themse dahinwälzten. Gleichwohl weigerte sie sich, an das gewaltige Gewicht zu denken oder Überlegungen darüber anzustellen, wie es möglich war, dass die gewölbte Tunneldecke das Flussbett zu tragen vermochte; und schon gar nicht wollte sie sich die Strömungen und Gezeiten vor Augen führen.
Wie tief unten waren sie hier? Die Luft roch abgestanden, und es war bitterkalt. Andererseits würde niemand auf die Idee kommen, einen Tunnel mit einem offenen Feuer zu heizen. Ventilation war hier nicht möglich. Einen Luftabzug zu schaffen, hieße, die Sicherheit des Tunnelystems zu gefährden.
Alle Sinneseindrücke schienen sich zu verzerren. Die Feuchtigkeit klebte in der Nase und an der Haut. An den Wänden hingen geschlossene Gaslampen, in deren Dämmerlicht Hester Menschen sich wie Schatten bewegen sah, die meisten davon waren Frauen. Sie schienen zu kaufen und zu verkaufen, es war wie eine albtraumhafte Szene, eine Art Höllenmarkt. Alle Geräusche klangen dumpf und verzerrt.
»Nicht so rumstarren!«, zischte Sutton Hester ins Ohr. »Sie sind hier, um Ratten zu fangen, nicht um sich Sehenswürdigkeiten anzuschauen.«
»Verzeihen Sie«, entschuldigte sie sich. »Wer sind diese Leute? Kommen sie jeden Tag hierher?«
»Eher umgekehrt: Die meisten kommen nie rauf. Kann sein, dass wir noch’ne halbe Meile weitermüssen.«
»Wen suchen wir überhaupt?«
Sie hielten sich in der Mitte des Tunnels, aber weil ihre Augen sich allmählich an die Düsternis gewöhnten, bemerkte Hester immer mehr Nischen an den Seiten. Diese wurden offenbar als Schlaf-und Speiseräume genutzt – und dem fauligen Geruch nach zu schließen auch für andere Bedürfnisse. Es war eine ganz eigene Welt unter der Erde, immer feucht und doch ohne Wasser. Hester versuchte, das Rascheln zu ignorieren, das nicht von menschlichen Füßen herrührte, ebenso das Schnappen kleiner Zähne und das Aufleuchten von stecknadelkopfgroßen roten Augen.
»Menschen, die in’nem Tunnel leben, wissen oft auch über andere Tunnel Bescheid«, antwortete Sutton auf Hesters Frage. »Alles, was hier is’, muss von irgendwo anders geholt werden. Ich bring Sie zu’nem Tosher, der über alle verborgenen Bäche Bescheid weiß, und vielleicht noch zu ein, zwei Navvys, die’s schlimm erwischt hat und die keine Lust haben, ihre früheren Herren zu verteidigen. Aber lassen Sie mich mit ihnen reden, kapiert?«
»Kapiert«, murmelte sie so leise, als hätten die Schatten Ohren. Sie setzten ihren Weg unter der Themse fort. Die Stille wurde nur durchbrochen von Stimmen, die in all dem Rascheln und dem Zischen der Gaslichter fast untergingen. Hin und wieder war von der Baustelle her das Scheppern von Metall oder das dumpfe Aufeinanderprallen von Holz zu hören. Es war eine unheimliche Welt, die das Tageslicht nicht kannte.
Sutton eilte weiter und blieb nur gelegentlich stehen, um jemanden zu grüßen, eine Frage zu stellen, einen bitteren Witz zu
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