Das dunkle Labyrinth: Roman
jetzt?«
»Wir haben Adressen. Lassen Sie uns doch irgendwo eine Tasse Tee oder, besser noch, Schokolade trinken. Danach können wir einige von diesen Leuten aufsuchen und in Erfahrung bringen, wen von ihnen Mary Havilland befragt hat.«
Gestärkt mit einer Tasse reichhaltigem, sahnigem Kakao und einem Schinkensandwich von einem Straßenhändler und heißen Kastanien von einem Stand hundert Meter weiter, machten sie sich auf den Weg zur ersten Adresse. Der Graupel ging über in gelegentliche Schneeschauer, doch noch blieb auf der nassen Straße nichts liegen, nur auf Fensterbrettern und Dachsparren. Und natürlich färbten sich die Dächer weiß, bis auf die Stellen um die Kamine, wo der Schnee schmolz. Die vor die Kutschen gespannten Pferde sahen mitleiderregend aus. Die Straßenhändler froren. Der Wind peitschte über sie hinweg und wirbelte Zeitungen durch die Straßen. In der Luft hing grauer Rauch, der den Tag fast schon zur Nacht machte.
Im ersten Haus verweigerte ihnen die Frau den Eintritt, im zweiten kam niemand zur Tür, im dritten hatte die Frau alle Hände voll mit ihren drei Kindern zu tun, von denen das älteste höchstens fünf Jahre alt sein konnte.
Hester warf Rose einen Blick zu und bemerkte das Mitleid in ihren Augen. Doch Rose verbarg ihre Gefühle, bevor die Frau sie erahnen konnte.
»Ich hab keine Zeit, um mit Ihnen zu reden«, stieß die Frau bitter hervor. »Wofür halten Sie mich? Ich muss Wäsche waschen, die bei diesem Wetter nie trocken wird, und dann irgendwas fürs Abendbrot auftreiben. Was will ich mit’nem Abgeordneten? Ich hab ja keine Stimme und auch sonst keiner in meiner Familie. Wir haben nie ein Haus gehabt, was uns gehört hätte, und schon gar keines, was so groß is’, dass man das Recht kriegt zu wählen. Egal, mein Mann is’ jetzt sowieso ein Krüppel.« Sie machte Anstalten, die Tür zuzudrücken, musste aber vorher das Mädchen wegziehen.
»Wir wollen nicht Ihre Stimme«, sagte Hester hastig. »Wir wollen nur mit Ihnen sprechen. Und ich kann Ihnen helfen. Ich bin eine gute Wäscherin.«
Die Frau musterte sie mit wachsendem Misstrauen, das schnell in Zorn umschlug. »Machen Sie sich bloß nich’ über mich lustig! Ich brauch nur Ihre Stimme hören, Miss. Damen, die wie Sie so unheimlich fein reden, können’ne Waschbürste nich’ von’ner Haarbürste unterscheiden.« Sie drückte die Tür weiter zu.
Hester stemmte sich dagegen. »Ich bin Krankenschwester und arbeite in der Portpool Lane in einer Klinik für Straßenmädchen.« Zu spät fiel ihr ein, dass das nicht mehr stimmte. »Ich wette mit Ihnen, dass ich mehr Schmutzwäsche gewaschen habe als Sie in Ihrem ganzen Leben.«
Die Hand der Frau erschlaffte. In ihrer Überraschung ließ sie es geschehen, dass die Tür wieder aufging, und Rose nutzte das sofort aus.
Im Inneren war es kalt. Möbel gab es so gut wie keine. Diese Familie lebte in bitterer Armut, hart an der Grenze des Verhungerns. Hester hörte, wie Rose nach Luft schnappte und sie dann in dem Versuch, ihre Fassungslosigkeit zu verbergen, langsam und leise entweichen ließ.
Es war wie bei den Collards, nur noch schlimmer. Hier war der Mann von einer kränklichen Blässe, seine Augen blickten resigniert. Seine Oberschenkel waren zerquetscht worden, aber immer noch vorhanden, wenn auch völlig entstellt. Seine verkrümmte Haltung und der verkniffene Mund verrieten, dass er große Qualen litt.
Geduldig und mit zitternder, sanfter Stimme versuchte Rose, ihm Fakten zu entlocken, doch er weigerte sich, etwas preiszugeben. Niemand war schuld. Hätte jedem passieren können. Nein, an den Maschinen fehlte nichts. Was war nur los mit ihnen, dass sie das nicht kapierten? Den anderen hatte er dasselbe gesagt.
Hester hörte nur mit halbem Ohr hin, als sie anfing, die Wäsche in der schon fast kalten Lauge zu schrubben. Das körperliche Unwohlsein unter diesen Bedingungen vermochte ihr Schuldgefühl keineswegs zu lindern. Und sie wusste schon jetzt, dass sie nach ein, zwei Stunden Arbeit ohne neue Erkentnisse abziehen würde. Irgendwie genoss sie aber die prickelnde Kälte an der Haut und das Ziehen in den Schultern, wenn sie die nassen Bettlaken aus dem Zuber hob und ihr Bestes tat, um sie mit bloßen Händen auszuwringen. In der Klinik hatten sie immerhin eine Mangel.
Erst im vierten Haus erfuhren sie etwas Brauchbares. Mary Havilland war ebenfalls dort gewesen.
»Sind Sie sicher?«, fragte Hester die stattliche Frau, die eifrig weiternähte, obwohl
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