Das dunkle Labyrinth: Roman
geschehen?«, setzte er in sanfterem Ton nach.
Sie suchte erst gar nicht nach einer Ausrede. »Ich war mit Sutton in den Tunneln. Ich war nie in Gefahr, aber dort ist etwas Schreckliches im Gange. Es ist nicht so einfach, wie ich dachte. Die Maschinen sind ungeheuer groß, und sie erschüttern den ganzen Boden, aber das weiß dort jeder. Das hat nichts damit zu tun, was Havilland und Mary entdeckt haben. In den Tunneln wissen alle, dass es gefährlich ist; die Gefahr gehört eben zu ihrer Arbeit.« Ihre Augen wanderten hilfesuchend über sein Gesicht, als ob er eine Erklärung bieten könnte. »Allen ist bewusst, dass es unterirdische Bäche und Quellen gibt und dass sich der Lehm bewegt. Hunderte von Menschen leben dort unten! Und Mary ging von einem zum anderen und stellte Fragen. Was kann sie nur gesucht haben, und warum war es so wichtig?«
Monk zwang sich, ihr Zeit zu lassen. Er trat zur Seite, damit sie an ihm vorbei in die warme Küche gehen konnte. Weil sie den ganzen Tag nicht dazu gekommen war, hatte er den Ofen gereinigt und neu eingeheizt. Er war von Natur aus nicht häuslich, aber wenigstens das konnte er. Als Hester noch bis spätabends bei den Schwerkranken und Sterbenden in der Klinik geblieben war, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als das Nötigste zu lernen. Sich über so etwas zu beklagen, erachtete er als unter seiner Würde. Dass er für sich selbst gesorgt hatte, war für ihn nicht der Rede wert, nachdem er erst vor wenigen Monaten diese grässliche Angst ausgestanden hatte, er könne sie wegen der schrecklichen Ereignisse für immer verlieren.
Er nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn zum Trocknen auf. Sie machte keinerlei Anstalten, nach Ausflüchten zu suchen. Allein das war schon ein Warnzeichen. Sie musste einen fürchterlichen Schock erlitten haben. Im hellen Gaslicht sah er es ihren Augen an. »Wo genau warst du?«, fragte er. »Wo hast du all das erfahren?«
»Im Themsetunnel«, antwortete sie. »Aber nicht allein«, fügte sie hinzu und wiederholte: »Ich war nie in Gefahr.« Unwillkürlich erschauerte sie, ja, sie bebte am ganzen Leib. Mit einer zitternden Hand fuhr sie sich durchs Haar. »William, es gibt Menschen, die leben ständig dort unten! Wie … wie die Ratten! Sie kommen nie an die frische Luft, sehen nie das Tageslicht.«
»Ich weiß. Aber das ist wahrscheinlich auch keine üblere Brutstätte für Verbrechen als die Elendsviertel am Flussufer und bei den Docks, Gegenden wie Jacob’s Island.« Er legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich. »Dass du mir bloß keine Klinik für sie einrichtest!«
Darüber musste sie so unbändig lachen, dass sie zu husten begann. »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber du bringst mich auf eine...«
»Hester!«
Sie lächelte ihn an. Es war ein fröhliches Lächeln voller Heiterkeit.
Er füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. In der Speisekammer hatten sie frisches Brot, Käse und ein Stück guten Kuchen.
»William.«
Er drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an. Ihr Gesicht war immer noch angespannt.
»Mary hat zig Orte aufgesucht und immer wieder Fragen über unterirdische Flüsse und die Beschaffenheit des Lehms gestellt. Sie wollte wissen, wie viele Menschen schon verletzt worden waren, aber auch, was das für Maschinen waren. Offenbar wusste sie etwas darüber. Sie nahm schreckliche Risiken auf sich. Entweder war ihr das nicht klar, oder sie …« Sie verstummte, und plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ihr Gesicht war kreidebleich, sie war müde, und obwohl Monk sie in den Armen hielt, hatte sie nicht aufgehört zu zittern. Was er auch tat, nichts würde ihr die Furcht nehmen, die sich tief in ihrem Inneren festgesetzt hatte. Sie wie ein Kind zu trösten war nicht möglich. Nein, um die Angst hinter sich lassen zu können, musste sie sich ihr und dem Schmerz stellen.
»Glaubst du, sie war so töricht, dass sie die Gefahr gar nicht bemerkte?«
»Nein«, murmelte Hester betrübt. »Ich glaube, sie suchte mit solcher Leidenschaft nach der Wahrheit, dass Weglaufen für sie nicht infrage kam, obwohl sie die Gefahr erkannte. Ich glaube, sie befürchtete eine schlimme Katastrophe, die das Unglück an der Fleet-Kloake in den Schatten stellen könnte.«
»Weil unter der Erde gebaut wird?«
»Feuer«, sagte Hester, »Gasleitungen, die in den Tunneln verlaufen und nach oben in die Häuser führen.«
Monk begriff. Was da passieren konnte, wollte er sich lieber nicht vorstellen!
Weitere Kostenlose Bücher