Das dunkle Lied des Todes
Sache dann aber anders, konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und dachte, dass alle Menschen einen Zerreißpunkt haben und dass ihrer bedrohlich nahe lag.
»Und dann?«
»Als wir im Esszimmer standen, haben wir da draußen jemanden gehört.«
»In der Küche? Um halb zwei Uhr nachts?«
»Die Tür war angelehnt, aber es war stockdunkel.«
Tineke atmete in kleinen harten Stößen. Eva nahm ihre Hand.
»Es können doch Anders oder Bromsen oder einer von den anderen gewesen sein?«
Tineke schüttelte den Kopf.
»Wir haben sie reden hören.«
»Wen habt ihr reden gehört?«
»Männer. Fremde Männer. Sollen wir die Polizei anrufen?«
»Und dann? Sagen, dass Männer in unserer Küche sitzen?«
Eva stand auf und zog ihren Bademantel an.
»Du willst doch nicht runtergehen?«
»Was hast du dir denn vorgestellt?«
Die Mädchen starrten einander an.
»Aber sollen wir nicht Bromsen wecken?«
»Nein, wir sollen Bromsen nicht wecken. Ihr kommt mit mir.«
Als sie die Treppen hinuntergingen, beschlich sie einungutes Gefühl. Jemand in diesem Haus hat irgendetwas vor. Aber was immer es ist, Vibe und Tineke haben nichts damit zu tun, und sie schon gar nicht …
Vor der Tür des Esszimmers wiegte sie die Taschenlampe in der Hand, als sie in den Raum mit den hohen Wänden lugte, der jetzt im bleichen Licht des Neumonds dalag.
Die Küchentür war wirklich angelehnt. Im Esszimmer herrschte eine bemerkenswerte Ruhe. Das Haus schlief, genauer gesagt, es hatte die Augen zugemacht, es ruhte in sich, wie ein Buchenblatt, das sich auf einem Bach wiegt.
Fester Boden unter den Füßen, dachte sie. Hier hat man keinen festen Boden unter den Füßen, obwohl man nicht weiß, ob dieses Gefühl vom Haus stammt oder aus einem inneren Ungleichgewicht. Sie durchdachte die Lage. Fühlte sich beobachtet. Drehte sich um und starrte das Gemälde über der Jolly Nigger Bank an. Sie wusste nicht, wen es darstellte, aber der Porträtierte glotzte sie hemmungslos an.
»Mastermind«, flüsterte sie, »denn es gibt einen Mastermind, der hier hinter allem steckt.«
Das war schon schlimm genug. Aber noch schlimmer war die andere Vorstellung: Wenn sie diesem Unfassbaren preisgegeben waren? Vielleicht saß das Unfassbare in der dunklen Küche? Vielleicht lag es in der Luft? Stachelte den Wahnsinn auf. Der wie eine Epidemie ausbrechen würde, wenn man nicht aufpasste. Aber war sie dieAnsteckungsträgerin? Oder jemand anderes? Jemand, der sich noch nicht zu erkennen gegeben hatte?
Eva drehte sich um und sah Vibe an, die die Hände vor den Mund geschlagen hatte.
»Was geht hier vor sich, Eva?«, flüsterte sie.
»Hier geht nichts vor sich. Warum stehst du so da?«
»Weil ich Angst habe.«
»Angst? Wovor?«
»Vor allem. Ich will nicht hier sein. Ich will nach Hause.«
»Nach Hause?«
»Ja, ich will nach Hause.«
»Vibe, du kannst nicht nach Hause.«
»Aber ich will nicht hier sein.«
»Red keinen Unsinn.«
»Wir haben Heimweh, Eva.«
»Zum Henker, wir sind doch gerade erst angekommen.«
»Aber wir haben Heimweh«, sagte Tineke. »Ich leide sonst nicht an Heimweh, aber jetzt geht es mir richtig schlecht. Wir haben darüber gesprochen, Vibe und ich. In der Nacht. Ich weiß, es hört sich dumm an, aber das hier ist ein böses Haus.«
»Es gibt keine bösen Häuser.«
»Nein, das weiß ich, aber hier ist es so … seltsam. Hier ist es nicht schön.«
»Es ist ein altes Haus am Wasser.«
»Aber warum darf ich nicht meinen Vater anrufen und sagen, er soll mich und Vibe holen?«
»Weil das eine Klassenreise ist, und man haut nicht ab, nur weil man ein bisschen Heimweh hat.«
Tineke verdrehte die Augen.
Eva schaute weg.
Hatte sie da gerade etwas gehört? Ja, da war ein Geräusch. Aber es kam nicht aus der Küche. Wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man denken können, da sei jemand im Keller.
Eva ging am Esstisch entlang und ließ den Lichtkegel über die Küchentür gleiten.
Tineke war stehen geblieben.
»Du gehst da doch nicht rein?«
Eva sagte »pst«. Denn es war Tinekes Schuld, dass Eva das Herz hoch oben im Hals schlug, diese ganze rücksichtslose ichbezogene Angst. Die sie im ganzen Haus verbreitete.
Eva räusperte sich.
»Ist da jemand?«
Sie stieß die Küchentür auf, fand den Lichtschalter und knipste die Deckenlampe an.
Die Küche sah so aus, wie sie sie mit dem Spülteam hinterlassen hatte. Die Teller standen im Gestell und das kleine ovale Fenster, das sie selbst geöffnet hatte, stand noch
Weitere Kostenlose Bücher