Das dunkle Lied des Todes
klopft sie und geht hinein.
Anders sitzt in der Fensternische und schaut hinaus aufs Wasser. Thomas liegt im Bett und schläft tief.
Anders sieht sie mit schuldbewusster Miene an.
»Ich wäre froh, wenn wir nicht nach Hause geschickt würden, ich weiß, wir haben Strafe verdient, aber wenn es wirklich sein muss, dann erlass sie Thomas. Ich habe ihn überredet. Er würde es nie überleben, von der Schule geworfen zu werden, ganz abgesehen davon, dass er der beste Schüler ist.«
Eva zieht die Tür hinter sich zu.
»Immer an andere denken. Was machst du, Anders?«
»Nichts Besonderes. Seh mir das Wasser an. Und die alten Fotos von Max und Edward.«
Die Bilder liegen auf der Fensterbank, es sind insgesamt neun. Die meisten sind so schlecht, dass man die Motive nicht von den nebligen Flecken unterscheiden kann, die die Zeit ihnen zugefügt hat.
»In alten Tagen konnte man Fotografien nicht fixieren, aber diese hier ist verhältnismäßig gut erhalten.«
Anders reicht Eva ein kleines bräunliches Bild, das zwei Männer in kurzen Hosen und Hemdsärmeln vor einem dreimastigen Segelschiff zeigt.
»Sind sie das, Max und Edward?«
Anders nickt.
Eva setzt die Brille auf.
»Wie froh sie aussehen. Und wie jung! Und sie haben ja solche Ähnlichkeit miteinander. Wo ist das aufgenommen worden?«
»Im Hafen von Sansibar. Sie waren damals einunddreißig.«
»Herrgott. Aber woher weißt du das? Dass sie einunddreißig waren?«
»Das steht auf der Rückseite.«
Eva dreht das Foto um und liest den handgeschriebenen Text. »Sansibar, September 1902. Edward und Max, 31 Jahre alt.«
»Moment mal«, Eva legt das Bild weg. »Wie können zwei Brüder gleich alt ein? Es sei denn, sie waren …«
»Ja«, sagte Anders. »Max und Edward waren offenbar Zwillinge.«
9
Als alleinerziehende Mutter ist man vielleicht besonders verletzlich. Aber über die Lehrerin meiner Tochter kann ich nur Gutes sagen.
Laura Matson, Mutter
Hinter der schwarzen Sonnenbrille fühlt sie sich beschützt. Sie sitzt vor dem Haus in der warmen Sonne. Das Wetter ist schlagartig besser geworden, der Wind hat sich gelegt und die Temperaturen sind plötzlich sommerlich geworden. Zwei Jungen haben sogar gebadet.
Es ist Nachmittag und die Pflichtbewusstesten sitzen an ihren Berichten über den Besuch im Gormsbyer Dom.
Anders und Thomas haben einen Drachen gebaut, aber es gab nicht genug Wind. Das große Gesprächsthema aber ist Vanessas Geige, die verschwunden ist. Wie sich eine Geige, die eine Viertelmillion gekostet hat, in Luft auflösen kann, ist ein kleines Mysterium, aber die Aufklärung liegt in Bromsens Händen. Und der ist mit seinem üblichen Sinn für Humor an die Arbeit gegangen, da alle davon ausgehen, dass sich die Geige im Haus befinden muss, zusammen mit dem Täter – oder wie Bromsen das ausgedrückt hat: dem Scherzkeks.
Vanessa ist natürlich außer sich, Eva aber bleibt ruhig,denn sie verfügt über ein Wissen, das Bromsen fehlt, da Betty weiß, wo die Geige steckt. Sie hat zu Eva gesagt:
»Das ist eine interne Angelegenheit. Und ich bringe sie in Ordnung.«
Eva hält ihr Gesicht in die warme Sonne. Denkt an ihre Wohnung zu Hause, an die Kochnische mit den schrägen Wänden und die Katze, die sie sich zulegen möchte. Sie denkt auch an ihre Einkaufsrunden durch das Viertel und an die Abende auf dem Ecksofa mit einem guten Buch. Sie denkt an das Treppenhaus, die zweiunddreißig Stufen zu ihrer Wohnungstür, das Geräusch, wenn sie eintritt, ihre Rituale beim Nachhausekommen: Blumen gießen, die Post durchsehen, den Kessel auf den Herd stellen, die Balkontür öffnen, nach den Kräutern sehen. Sie denkt daran wie an einen Hafen, den man nach einer langen, anstrengenden Reise ansteuert. Wenn sie in diesem Augenblick den Wagen anlassen könnte, würde sie das Gaspedal durchdrücken. Aber wenn sie sie ansieht: Anders und Thomas mit ihren strengen Zügen, Tineke und Vibe, über ihren Bericht gebeugt, Filip und Johan, die synchron arbeiten, JB in knallroter Badehose, obwohl er bekanntlich wasserscheu ist, die tapfere Betty und den ängstlichen Gustav, dann sieht sie, dass alle etwas Neues ausstrahlen. Das ist wohl eins der Ziele einer solchen Klassenreise: die Schüler in einem anderen Licht zu sehen. Und das Licht, in dem sie sie sieht, ist ein Licht, das sie von einer neuen und überraschenden Seite zeigt. Siesieht ihre Verletzlichkeit, ihre Abhängigkeit untereinander, die seltsamen Bänder, die über die
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