Das dunkle Lied des Todes
perfides Lachen trotzdem sehen.
Wenn Franz ein fauler Apfel war, dann war JB der Wurm.
»Latein ist nicht gerade meine starke Seite«, murmelte Eva. »Was bedeutet das, Anders?«
»Das weiß ich nicht mehr. Weißt du das noch, Franz?«
»Nein, das ist total weg. Was ist mit dir, Gustav, weißt du noch, was der Spruch bedeutet?«
Gustav antwortete, er könne sich nicht erinnern. Plötzlich stotterte er wieder. Gustav schwitzte. Gustav hatte Angst. Nicht vor Franz und nicht vor Eva, sondern vor etwas zehnmal Schlimmerem. Eva hatte es immer schon gewusst: Gustav war das Gewissen der Klasse. Alles war ihm anzusehen, und wenn er anfing zu stottern, dann stimmte etwas nicht.
Eva stützte sich auf eine Bank und spürte, wie die Hitze ihren Rücken hochschoss. Wenn sie sich nur für einen Moment hinlegen könnte.
Aber das ging nicht. Sie war schlaff wie ein Regenwurm und gespannt wie ein Flitzebogen. Blind an beiden Enden, entblößt unter der Sonne. Sie sah sich um. Voller Angst, laut gedacht zu haben. Das war eine Unsitte, die vom Alleinsein kam. Sie dachte an den Raum, in dem sie sich aufhielten, an dessen Kälte und Macht. Maria Wagner war ein sehr religiöser Mensch gewesen. Ihre Verkündigung hatte in der Musik gelegen. Die Verbindung zum Göttlichen lief durch die Musik.
Bromsen löste sich aus der Gruppe und ging auf den Ausgang zu, aber auf halbem Weg drehte er sich um und rief mit klarer, lauter Stimme:
»Den Himmel, nicht das Gemüt wechseln die, die über das Meer fahren.«
Eine Stunde später waren sie auf dem Weg zurück nach Burgsvig. Das Wetter war umgeschlagen und jetzt hing ein grau melierter Himmel wie ein Deckel über der Landschaft, und nach einer halben Stunde fing es an zu regnen, zuerst einige weiche Tropfen, dann schwere Güsse, die wie Hagel niederschlugen.
»Es regnet rein«, rief Tineke.
»Ja, überall pisst’s rein«, rief JB. »Wir hätten Korkgürtel mitnehmen sollen.«
»In deiner Größe gibt’s keine«, sagte Franz grinsend.
Bromsen fuhr an den Straßenrand. Er sah seinen Finger an.
»Ich muss den Verband wechseln.«
Anders kam zu ihnen nach vorn.
»Ich schlage vor, dass wir beim Kaufmann halten, Thomas und ich müssen etwas besorgen.«
Eva starrte ihn an.
»Seit wann bestimmst du alles?«
Anders zuckte mit den Schultern.
»Das war nur ein Vorschlag.«
Bromsen schaute durch die Windschutzscheibe.
»Wir müssen wohl warten, bis der Schauer vorüber ist.«
»Das ist kein Schauer«, Anders schüttelte den Kopf. »Das ist Dauerregen. Sieht so aus, als ob es bis morgen weitergeht.«
Alle gingen zum Einkaufen in den Laden. Bis auf Eva und Bromsen, die Betty gebeten hatten, Gaze und Pflaster zu kaufen. Es regnete jetzt so heftig, dass die Scheibenwischer gegen den Druck nicht ankamen.
Eva steckte sich eine Zigarette an.
»Die Summe der Laster«, sagte sie, »ist nicht konstant. Stört es dich, wenn ich hineingehe und eine Flasche Rotwein kaufe?«
Bromsen lächelte.
»Ich habe eine mit«, sagte er.
»Zum Teilen?«
»Natürlich.«
Eva lächelte.
»Du bist schon in Ordnung, Bromsen, aus dir wird noch ein vernünftiger Lehrer. Und Latein kannst du gut.«
»Seinen Horaz wird man ja wohl noch kennen.«
»Horaz?«
»Ja. Horaz, Quintus Horatius Flaccus. Ich bin Altphilologe. Das stammt aus seinen Episteln, was diese missratenen Gören da gelernt haben. Das ist was für Fortgeschrittene, das kann ich dir sagen.«
»Erzähl von deinen Reisen in Afrika.«
»In Afrika?«
»Du warst doch in Tansania und Mosambik?«
Er schaute weg.
»Zwei Jahre lang. Mit der Entwicklungshilfe. Das Einzige, was ich mit nach Hause gebracht habe, war Malaria. Aber das ist kein Problem, dagegen gibt es Pillen.«
»Warst du auf Sansibar?«
»Auf Sansibar und auf Pemba. Da ist es sehr schön. Sehr bunt. Viele Farben. Feine Menschen. Sehr musikalisch.«
Eva nickte.
»Wovon leben die Leute da unten?«
»Sie leben von der Hand in den Mund.«
»Kein Export?«
»Doch, sie exportieren Gewürznelken.«
»Genau das«, Eva drückte ihre Zigarette aus, »nur Gewürznelken. Das muss dir doch aufgefallen sein, als du das Haus betreten hast. Dass es nach Gewürznelken riecht?«
»Eigentlich nicht«, Bromsen zupfte an seinem Verband. »Übrigens fand ich, du warst ein bisschen hart zu Franz.«
»Was sagst du da?«
»So schlimm ist er nicht, wenn man unter vier Augen mit ihm spricht.«
Eva steckte sich noch eine Zigarette an und lächelte.
»Na, wie schön, dass ihr euch gefunden habt,
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