Das dunkle Lied des Todes
alltäglichen Streitereien erhaben sind. Denn sie bilden einen Kult, einen geheimen Kreis. Diesen Eindruck hatte sie schon immer und es ist faszinierend. So verschieden sie auch sind, sie teilen doch etwas, das nur ihnen gehört. Gegen den Rest der Welt. Etwas, das dicker ist als die Bande des Blutes.
Eva sagt es laut: »Eine Schicksalsgemeinschaft.«
Sie hat noch nie in solchen Bahnen gedacht, aber als sie vor dem braunen Foto von Max und Edward stand, spürte sie das auch, auch wenn sie es nicht in Worte kleiden konnte.
Natürlich hatte sie nicht alles hingeworfen. Das hatte sie schon einmal getan. Und eine weitere Chance bekam man nicht. Das wusste sie nun wirklich besser als die meisten anderen. Sie sagte sich, es werde schon alles gut gehen. Es leuchte Licht am Ende des Tunnels.
»Sündenvergebung«, flüsterte sie. »Wie ich dieses Wort hasse.«
Sie zündete sich eine Zigarette an und hielt für eine Weile die Augen geschlossen, spürte die Sonne auf ihrer Haut. Unsere Sünden, dachte sie, verlassen und vergessen uns nie. Die kleinen verdampfen vielleicht im Lauf der Zeit, aber die großen hängen an uns wie ein Anker. Sie rosten, aber sie vergehen nicht. Sie sind unserem Gang fast anzusehen. Wie wir die Füße setzen. Auf die Erde.
Sie drückte die Zigarette aus und dachte über Bromsens Vorschlag einer Nachtwanderung nach. Sie hatten eine Route mit allerlei ausgeklügelten Posten aufgestellt. Eva sollte die Gruppen einteilen. Die Schwachen mit den Starken zusammentun, Unterschiede ausgleichen, damit die Wettbewerbsbedingungen so gleich wie möglich würden.
Sie hätte es auch blind machen können:
Gruppe 1: Anders, Julius, Tineke und Filip.
Gruppe 2: Franz, Vibe, Johan und Vanessa.
Gruppe 3: Betty, Thomas und Gustav.
Aber zuerst kam das Festmahl. Es war Tinekes Idee gewesen. Sie fand, sie hätten so viel durchgemacht, dass sie eine ordentliche Mahlzeit verdient hätten. Mit Nachtisch natürlich. Tineke hielt das gesamte Leben für eine Prüfung, vor allem für sie selbst. Deshalb fand sie es nur gerecht, dass die ganze Welt anerkannte, wie schwer sie es hatte, und für Ausgleich sorgte. Obwohl alle Welt wusste, dass gerade Tineke mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden war. Aber sie hatte ein seltenes Gespür für Genuss und war ein Gewinn für jede Gesellschaft. Kein Klassenfest ohne Tineke. Sie war ein Synonym für Luxus, ihr standen alle Türen offen, und das gab ihr einen besonderen Status. Wenn Tineke also Fest sagte, dann wurde ein Fest arrangiert.
Bromsen war zum Einkaufen nach Gormsby gefahren. Eva hatte ihn gebeten, einen Amarone zu kaufen, und dieSchüler hatten sich
Pasta bolognese
und zum Nachtisch Eis bestellt.
Nichts Neues unter der Sonne. Abgesehen von dem geheimen Plan, den Eva für die Nachtwanderer zur Hand hatte. Sie hatte Bromsen nichts von ihrem Plan erzählt. Der sollte wie ein Blitz aus heiterem Himmel kommen und mit etwas Glück bisher verborgene Schichten bloßlegen. Nicht, dass Eva sich da große Erwartungen gemacht hätte. Ihr Wunsch war ganz einfach, nämlich, die anderen teilhaben zu lassen an einem Mysterium, das dermaßen abgefahren war, dass es den gesunden Menschenverstand bedrohte. Sie wollte alle mit diesen unerklärlichen Begebenheiten konfrontieren. Mit dem, was sie selbst nicht verstand. Das, was größer wirkte als alles, was ihr je begegnet war. Größer und schlimmer, unheimlicher und beunruhigender. Sie wollte die Hilfe der anderen. Alles andere wäre unlogisch, da sie allesamt bis zum Hals darin steckten. Elf plus zwei. Dreizehn an Bord.
Eine Schar von Auserwählten.
Sie hörte, wie Bromsen mit dem Minibus zurückkam, und ging ins Haus, um die Einkäufe entgegenzunehmen.
Die Stimmen aus dem ersten Stock gehörten Franz, Betty und Vanessa. Sie sprachen über die verschwundene Geige und sie schienen erregt zu sein. Das war allerdings kein Wunder. Das Wunder war, dass Franz und Betty sich gegen die weinende Vanessa zusammengetan hatten.
»Was ist hier los?«, fragte Bromsen.
»Das ist eine interne Angelegenheit«, murmelte Eva.
»Zwei gegen eine?«
»Oder zehn gegen eine.«
»Aber das endet doch damit, dass sie sie kaputtmachen.«
»Vielleicht muss das so sein.«
»Wovon redest du?«
»Ich rede von der Vorspeise. Dann kommt das Hauptgericht und alles zusammen ergibt einen unvergesslichen Abend an Bord der Pemba.«
Das Essen verlief in angespannter Atmosphäre. Gustav und Thomas hatten gekocht, sie waren die besten
Weitere Kostenlose Bücher