Das dunkle Netz der Lügen
zum Feiern zumute zu sein.
Nach dem Essen beschlossen sie, dass es das Beste war, wenn Georg den Jungen sofort das Urteil mitteilte. Lina hingegen wollte Aaltje wecken und die gute Nachricht überbringen.
«Hat sie heute schon etwas gegessen?», fragte Lina die Haushälterin Tineke.
«Sie hatte keinen Appetit. Das macht mir Sorgen.»
«Vielleicht möchte sie etwas, wenn ich ihr erzähle, dass jetzt alles gut ist.»
«Ach, das will ich hoffen. Ich werde schnell etwas aufwärmen gehen», sagte Tineke und ging wieder hinunter in die Küche.
Lina betrat leise das Zimmer, nahm einen Stuhl und setzte sich ans Bett. Sie betrachtete diesen Berg von Frau. Aaltje überragte sogar ihren Mann ein wenig. Aber sie hatte eigentlich nie die Stärke ausgestrahlt, die man hinter ihrer Statur vermutet hätte. Lina fühlte sich plötzlich erinnert an einen anderen Tag, an dem Aaltje schwach und krank hier gelegen hatte, neben sich ihr totes Kind, das ein paar Tage nach der Geburt gestorben war. Es war der Tag gewesen, an dem Lina einen Säugling aus den Schmugglergängen unter der Stadt gerettet hatte, der dort einfach zurückgelassen worden war. Sie hatte das kleine Mädchen zu Aaltje gebracht, und gemeinsam hatten sie beschlossen, es anstelle des toten Kindes in die Wiege zu legen und als Kind der Kaufmeisters aufwachsen zu lassen.
Aaltje war Lina bis dahin nie ans Herz gewachsen, sie war einfach nur eine bigotte Frau gewesen, die lange Linas Regiment im Vaterhaus gestört hatte. Doch das gemeinsame Geheimnis, von dem außer ihnen beiden nur ganz wenige Menschen wussten, und Linas Respekt vor der unbedingten Mutterliebe, die Aaltje diesem kleinen Wesen entgegenbrachte, hatten sie zu Freundinnen werden lassen.
Was wäre gewesen, wenn Lina damals die Kleine selbst behalten hätte? Da hatte sie ja noch nicht ahnen können, dass es ihr nicht vergönnt war, selbst Kinder zu bekommen. Lina seufzte leise. Nein, es war gut so. Carolinchen war nirgends besser aufgehoben als bei Aaltje und Georg.
Vorsichtig weckte sie ihre Schwägerin. «Es ist vorbei, Aaltje. Die Jungen bleiben euch.»
Aaltje schaute sie verschlafen an, fast als meinte sie zu träumen. Aber dann traten Freudentränen in ihre Augen. «Ach, Lina, jetzt ist es vorbei, was?» Lina nahm ihre Hand. «Ja, meine Liebe, das wollen wir hoffen.»
Sie erzählte ihr nicht viel von dem Prozess, um sie nicht wieder aufzuregen. Und erst recht sagte sie nichts von Minas Drohung.
Gemeinsam mit Tineke wechselten sie Aaltjes durchgeschwitztes Nachthemd. Mit Sorge bemerkte Lina, dass Aaltje nicht in der Lage war aufzustehen.
«Du musst etwas essen, Aaltje.»
«Nee, ich hab keine Hunger.»
«Hast du nicht auf irgendetwas Lust? Ein Stück Kuchen vielleicht? Oder Suppe?»
«Ein Pfannekuch vielleicht.»
«Mit Äpfeln?», fragte Lina.
Aaltje nickte, und Tineke lief gleich wieder in die Küche zurück, sichtlich zufrieden.
Eine halbe Stunde später kam sie mit einem duftenden Apfelpfannkuchen zurück, den sie gut mit Zucker bestreut hatte.
Lina leistete Aaltje noch beim Essen Gesellschaft, obwohl sie längst im Geschäft hätte sein müssen. Aaltje aß jedoch nur ein paar Bissen, dann stellte sie den Teller auf das Nachttischchen.
«Ich hab genug gehabt.»
«Wir lassen ihn für später stehen», sagte Lina. Sie sorgte noch dafür, dass Aaltje etwas trank, dann machte sie sich auf den Weg.
«Sie ist wirklich sehr krank», sagte Tineke, die sie unten bis zur Tür begleitete. «In all den Jahren hat sie nie ihren Appetit verloren.»
Lina nickte. «Sie hat ja zum Glück genug zuzusetzen. Hoffen wir, dass es ihr bald wieder schmeckt.»
Doch auf dem Weg nach Hause beschlich sie ein ungutes Gefühl.
Es war Nacht geworden. Den ganzen Tag über hatte man im Hause Kaufmeister den Eindruck gehabt, auf Watte zu gehen, so still waren alle, selbst Carolinchen, um Aaltjes Ruhe nicht zu stören.
Emil lag wach in seinem Bett und dachte daran, dass sein Onkel ihm vorgeworfen hatte, schuld an der Krankheit seiner Tante zu sein. Aber wahrscheinlich war er immer an allem schuld in den Augen seines Onkels.
Der hatte am Nachmittag verkündet, dass ihre Mutter nicht nur den Prozess um die Vormundschaft verloren, sondern der Richter auch verfügt hatte, dass sie die Jungen nicht mehr sehen dürfe, wegen ihres ungehörigen Lebenswandels. Georg hatte sogar etwas von käuflicher Liebe angedeutet.
Hatte nur noch gefehlt, dass Onkel Georg seine Mutter offen als Hure bezeichnete, dachte Emil. Er war
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