Das dunkle Netz der Lügen
gewartet zu haben. Triumphierend stellte er in Frage, dass Bleibtreu als ein in Preußen polizeilich gesuchter Landesverräter überhaupt das Recht hatte, Georg zum Vormund seiner Söhne zu bestimmen. Der Richter aber, noch unter dem Eindruck der verlesenen Akte, wies das scharf zurück, da Mina die Jungen ja ebenfalls verlassen habe und Georg seine Fürsorge für die Jungen auf eine rechtlich einwandfreie Grundlage hatte stellen wollen.
Der Anwalt führte noch einmal aus, dass seine Mandantin inzwischen wieder ein geordnetes Leben führe. Mina selbst appellierte tränenreich an den Richter, einer Geläuterten noch eine Gelegenheit zu geben, ihre Fehler an den Jungen wiedergutzumachen.
Daraufhin zog Justizrat Michel seinen letzten Trumpf aus dem Ärmel, den er zuvor mit Roberts Hilfe sorgfältig vorbereitet hatte. Im Mittelpunkt stand das Haus Wallstraße 237in Duisburg, dessen obere Stockwerke komplett von einem Matthias Kellerer angemietet worden waren – dem Mann, von dem sie vermuteten, dass er Minas neuer Verlobter war. Nach Aussagen der Nachbarn gingen dort seit einiger Zeit erstaunlich viele Männer ein und aus, und das Aussehen der dort lebenden jungen, ledigen Frauen ließ darauf schließen, dass es sich um einen Bordellbetrieb handelte. Die Staatsanwaltschaft Duisburg interessiere sich inzwischen auch für dieses Haus.
Lina konnte sehen, dass Mina bleich geworden war. Sie flüsterte mit ihrem Anwalt, der daraufhin wieder deutlich machte, dass auch in dieser Sache der Polizeichef von Ruhrort unberechtigt seine Beziehungen hatte spielen lassen.
Den Richter beeindruckte das jedoch nicht. Er gestand Georg und seinem Anwalt zu, jedes Mittel zu nutzen, wenn es darum ging, Kinder vor schlechtem Umgang zu schützen.
Dann fragte Justizrat Michel Mina, ob Herr Kellerer tatsächlich ihr «Verlobter» sei, mit dem sie in Frankfurt ein gemeinsames Leben führen wollte. Für einen Moment tat Lina ihre Schwester fast leid. Sie hatte bereits verloren, und es schien, als wolle der Anwalt sie treten, obwohl sie am Boden lag.
Mina aber stritt ab, Kellerer zu kennen, und behauptete, dass sie lediglich ein billiges Zimmer im selben Haus zur Untermiete bewohne. Sie tat entsetzt, dass sich angeblich solche Dinge dort abspielten, und bot an, sofort auszuziehen.
Doch der Richter schenkte ihr keinen Glauben mehr. Georg behielt die Vormundschaft über seine beiden Neffen – und mehr noch: Mina wurde sogar der Umgang mit ihren Kindern verboten. Bei der Verkündung des Richterspruchs brach sie in Tränen aus.
Als alle den Saal verließen, redete Mina draußen gedämpft, aber sehr aufgeregt mit ihrem Anwalt. Lina, die das dringende Bedürfnis nach frischer Luft verspürte, ging schon vor, währendihr Mann, ihr Bruder und der Justizrat noch mit dem Richter sprachen.
Als Lina ihre Schwester und deren Anwalt passierte, zischte Mina ihr zu: «Nun, Lina, was hast du beigetragen zu dem großen Sieg deines Bruders?»
Lina blieb stehen. «Ich habe Robert geheiratet.»
«Du Miststück!», schrie Mina. Der Anwalt konnte sie nicht aufhalten, sie wollte sich auf Lina stürzen, die mit ihrem Gehstock ausholte, aber da waren Robert und ein Gerichtsdiener schon da und hielten die beiden auseinander.
Mina spuckte ihrer Schwester vor die Füße. «Du bist ein erbärmliches Miststück, du Krüppel.»
«Lieber eine verkrüppelte Hüfte als ein verkrüppelter Charakter», sagte Lina erstaunlich ruhig.
Damit verließ sie das Gericht.
Jetzt, in der Kutsche, wurde Lina klar, dass ihre kühle Erwiderung für Mina vielleicht noch schlimmer gewesen war, als wenn sie ihr mit demselben Hass begegnet wäre.
Mit Schaudern erinnerte sie sich an das, was sie ihr und ihren Verwandten hinterhergerufen hatte: «Das werdet ihr alle büßen! Das Hinkebein und der Einäugige und nicht zuletzt auch deine fette Frau, Georg. Ihr werdet euch noch wünschen, mir die Jungen überlassen zu haben!»
Robert legte plötzlich den Arm um Lina. «Jetzt ist es vorbei», sagte er leise. «Und wenn die Duisburger Polizei an der Wallstraße aufgeräumt hat, dann ist Mina auch dort unerwünscht. Ihr wird nichts anderes übrigbleiben, als aus der Gegend zu verschwinden.»
«Ja», seufzte Georg. «Jetzt hoffe ich nur, dass Aaltje schnell wieder gesund wird.»
Georg hatte noch alle zum Tee im Hause Kaufmeister eingeladen, aber Aaltje, die den halben Morgen verschlafen hatte,konnte immer noch nicht aufstehen. Die Kinder waren auf ihren Zimmern, und keinem schien wirklich
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