Das dunkle Netz der Lügen
bei einem Freund meines Mannes gewohnt»,erklärte Zita. «Aber der hat mich vor die Tür gesetzt. Die Pensionen sind alle voll, und ich will so spät nicht zu Frau Borghoff.»
«Verstehe.» Martha sah sie mütterlich an. «Kindchen, dann bleib doch einfach hier für heute Nacht. Wenn … Ich denke, du weißt schon, was für ein Haus das ist?»
«Ja», sagte Zita.
«Dann komm.»
Im Hause Kaufmeister war alles ruhig. Georg hatte an Aaltjes Bett gesessen, bis sie eingeschlafen war. Er dachte an die Aufregungen des vergangenen Tages. Er war nicht einmal im Kontor gewesen, weil Emil und Josef fortgelaufen waren. An solchen Tagen brachte der Bürobote die Post immer ins Haus, aber nicht einmal dazu hatte er die Zeit gefunden.
Er nahm eine Kerze und ging noch einmal hinunter, um den kleinen Packen zu holen. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch und zündete die Öllampe an, um die Briefe zu lesen.
Die ersten waren Rechnungen, die er abzeichnete und in eine Mappe legte, um sie morgen seinem Buchhalter zu geben. Der Schwager aus Rotterdam kündigte ein Schiff mit Waren für die nächste Woche an und schickte eine Liste mit Gütern, die er haben wollte.
Dann lag da ein kleiner Brief, der mit billigem Lack versiegelt war. Er trug keinen Absender. Georg öffnete ihn und faltete ihn auseinander. Diese Schrift kannte er gut. Sie ähnelte der von Lina, aber war ganz anders geneigt und etwas steiler. Das war Minas Handschrift – offenbar sehr hastig geschrieben.
Verehrter Georg,
wenn Du glaubst, dass das Kind Carolina, das in Deinem Hause aufwächst, Deine Tochter ist, so muss ich Dir mitteilen, dass
dies unmöglich sein kann. Das Kind, das Aaltje damals, als ich noch in Ruhrort war, zur Welt gebracht hat, ist kurz nach der Geburt gestorben. Du kannst Dein Hausmädchen Lotte fragen, sie hat es ebenso wie ich mit eigenen Augen gesehen.
Was für ein Kind jetzt an seine Stelle getreten ist, weiß ich nicht. Aber es kann nicht Dein Fleisch und Blut sein. Schau sie Dir nur einmal genau an. Sie ähnelt keinem von uns – und ebenso wenig Aaltje.
Hochachtungsvoll
Deine Schwester Mina
Georg warf den Brief auf den Tisch, als wäre er giftig, um ihn gleich wieder zur Hand zu nehmen und nochmal zu lesen. Er traute Mina durchaus zu, mit einer Lüge Unruhe stiften zu wollen. Aber da war tatsächlich Carolinchens Aussehen, das so gar niemandem aus der Familie ähnelte. Karl und Elisabeth waren beide blond, Elisabeth leidlich hübsch, und niemand in der Familie, weder auf Aaltjes noch auf seiner Seite, hatte je dunkle Locken gehabt.
Er liebte dieses bildhübsche Mädchen mehr als seine anderen Kinder. Wenn das wahr war, was Mina hier behauptete …
Er sprang auf und rannte die Treppe hinauf. Aaltje wollte er nicht fragen, so krank wie sie war. Also stürmte er bis hinauf unters Dach und klopfte an die Tür der Hausmädchen.
«Lotte, wach auf», rief er.
Ein paar Sekunden vergingen, dann öffnete sie die Tür. «Ist etwas mit Ihrer Frau, Herr Kaufmeister?», fragte sie schlaftrunken, als sie den völlig atemlosen Georg sah.
«Nein, es ist etwas anderes – ich muss dich etwas fragen. Und ich rate dir, nicht zu lügen.»
«Lügen? Warum sollte ich …»
«Als Carolinchen geboren wurde, war ich auf Reisen.»
Selbst im Licht der Lampe glaubte Georg zu sehen, wie Lotte bleich wurde.
«Ich frage dich jetzt, Lotte: Ist Carolinchen das Kind, das meine Frau damals geboren hat?»
«Sicher, warum sollte sie das nicht sein?» Lotte war keine gute Lügnerin, aber sie musste es versuchen. Um Aaltjes, Linas und um ihrer selbst willen.
«Meine Schwägerin Mina behauptet, das Kind, das meine Frau zur Welt brachte, sei kurz darauf gestorben.»
«Herr Kaufmeister …»
«Willst du, dass ich meine Frau frage?» Er begann wütend zu werden, und Lotte fürchtete sich vor seinem Jähzorn. Wenn er zu Aaltje ging und sie fragte, würde sie das vielleicht nicht überleben, so schwach wie ihr Herz war.
«Es stimmt», sagte Lotte. «Das Kind ist gestorben. Ihre Frau war … untröstlich. Sie wollte nicht mehr leben. Aber dann hat ihre Schwägerin Lina ihr das Kind gebracht, das sie … nun, ich denke wohl, sie hat es gefunden. Dieses Kind war gesund und stark. Und wir waren uns einig, dass es das Beste sei, alle in dem Glauben zu lassen, dass es Aaltjes Kind ist.»
«Und mich zu betrügen?» Es fiel Georg schwer, nicht zu schreien.
«Ich denke, es war auch für Sie besser, nach so langer Zeit und so vielen
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