Das dunkle Netz der Lügen
nicht bald aufhört zu schreien, dann dreh ich ihm eigenhändig den Hals um», sagte Mina mit einem kalten Blick auf Zita. «Eigentlich brauchen wir es doch nicht mehr.»
«Geh, sei doch nicht so grausam, Mina», sagte Kellerer. «Die Kleine zahnt wohl.»
«Als ob dich das interessieren würde.»
Er drückte Mina das Kind wieder in die Arme. «Geh mit Pepi nach hinten.»
«Ich schau mal nach einem Brotkanten, auf dem sie kauen kann», sagte Pepi.
Kellerer wandte sich seinen Leuten zu. «Wo sind denn der Karli, der Louis und der Niki?»
Als Robert mit dem gefassten Dieb, der ihm nicht einmal seinen Namen sagen wollte, ins Rathaus kam, waren alle dort bester Laune. Sie hatten die beiden anderen Diebe in der Altstadt geschnappt. Die beiden Männer trugen fast tausend Thaler und ein paar Silberwaren bei sich.
«Diesmal waren wir schnell genug», rief Ebel.
«Das haben wir alles dem Stallknecht von Hanessen zu verdanken», sagte Robert. «Bei dem möchte ich nicht Pferd sein.»
Er blickte sich um. «Warum sind die Kontrollpunkte nicht besetzt?»
«Das hat doch beim letzten Mal auch nichts gebracht», sagte Ebel.
«Das mag sein. Aber wir sollten es ihnen trotzdem nicht zu leicht machen.»
Er deutete auf die drei Diebe. «Wir trennen sie. Der da …», er deutete auf den Verletzten, «kommt erst einmal unten insGewahrsam. Den anderen bringen Sie nach oben. Und den Jungen hier werde ich mir vorknöpfen.»
«Du sagst kein Wort», zischte der Ältere der beiden.
«Ruhe!», brüllte Ebel und gab ihm einen schmerzhaften Stoß. «Rauf da!»
Robert setzte sich hinter seinen Schreibtisch, der junge Mann saß mit auf dem Rücken gefesselten Händen davor.
«Wie heißen Sie?», fragte Robert.
Schweigen.
«Wo kommen Sie her? Süddeutschland, Österreich?»
Wieder Schweigen.
Der Commissar seufzte innerlich. Es würde eine lange Nacht werden.
15. K apitel
Antonie hatte ihren freien Nachmittag gehabt, und Finchen war noch damit beschäftigt, ihre Kinder zu Bett zu bringen, deshalb stand Lina selbst in der Küche und brühte sich einen Tee aus frischer Minze auf.
Sie hörte, dass jemand klopfte, und öffnete die Tür. Es war Antonie – und sie war kreidebleich um die Nase.
«Antonie, was ist passiert?»
«Ich habe es gesehen!» Antonie setzte sich, ohne ihre Tasche und das Umschlagtuch abzulegen, in die Küche.
«Was hast du gesehen?»
«Den Spuk. Den Spuk im Haus an der Schulstraße.»
Lina erinnerte sich an die Geschichten, die unter den Dienstmädchen seit einiger Zeit kursierten. Man habe Geräusche aus dem leerstehenden Haus an der Schulstraße gehört, leise Schritte, so als wäre jemand in dem Gebäude. Und ein- oder zweimal hatte man abends einen Lichtschein in den oberen Stockwerken gesehen, deren Fenster nicht zugenagelt waren.
«Ich hab das Licht gesehen, Frau Borghoff. Der Geist wandert dort mit einer Kerze herum.»
«Das klingt doch eher nach einem Menschen, ich glaube kaum, dass ein Geist eine Kerze braucht», sagte Lina spöttisch.
Antonie war ein wenig beleidigt, weil Lina sie nicht ernstnahm. «Die Betti hat gestern und vorgestern Stöhnen gehört und Schreie, das hörte sich so an, als käme es von weit her.»
Lina wusste, gerade weil die meisten Ruhrorter nicht genau erfahren hatten, was vor sechs Jahren in dem Haus geschehen war, gab es viele Geschichten. Die Gänge unter der Stadt, in der Reppenhagen und seine Freunde ihr Unwesen getrieben hatten, waren an vielen Stellen zugemauert worden. Sie hatten einst den Schmugglern während der französischen Besatzung gedient, und manche Familien nutzten die unterirdischen Kammern als Lagerräume. Aber die Eingänge außerhalb der Hauskeller hatte man nach den Ereignissen vor sechs Jahren verschlossen. Dort unten konnte niemand sein.
«Antonie, es gibt keine Geister! Wenn Betti etwas gehört hat, dann gibt es eine ganz vernünftige Erklärung dafür, da bin ich sicher.» Lina schob ihrem verstörten Hausmädchen die Tasse mit dem Pfefferminztee hin. «Trink. Ich glaube, du brauchst den dringender als ich.»
Als Lina schließlich zu Bett ging, dachte sie noch einmal über den angeblichen Spuk nach. Sie würde Robert sagen, dass er im ehemaligen Haus der Wienholds nach dem Rechten sehen solle. So viele Hausmädchen konnten sich nicht irren.
Resi hatte sich müde geschrien. Zita legte sie auf ein dickes Kissen, das sie von dem Sofa genommen hatte, auf dem offenbar Pepi schlief. Das Zimmer hatte wahrscheinlich als kleines Büro der
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