Das dunkle Netz der Lügen
Näherin. Selbst wenn Anna sich wieder erholt, wird sie lange Zeit nicht arbeiten können, und sie ist nur schwer zu ersetzen. Wir haben gerade viel zu tun in der Werkstatt. Allein Cornelius’ Frau hat vier Kleider bestellt.»
Robert lächelte einen Moment. Seine Frau mochte eine steife Hüfte haben, aber sie fühlte sich am wohlsten, wenn sie auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen konnte. «Die Adresse ist Milchstraße 3, der Freund heißt Demuth.»
«Ich gehe gleich los, wenn wir hier fertig sind», sagte Finchen. Nach sieben Jahren in Linas Obhut brauchte sie nicht mehr viele Anweisungen.
Nachdem Finchen ihren Botengang gemacht und zu Hause kurz die kleine Sophie gestillt hatte, hatte sie ihre Dienstherrin an Annas Krankenbett abgelöst. Die Verletzte war immer noch bewusstlos und hatte sich nicht einmal geregt.
Als Lina zu Hause ankam, war Zita bereits da. Finchen hatte sie in Frau Heisings Küche gefunden, wo sie sich etwas aufwärmte, nachdem sie den ganzen Morgen vergeblich versucht hatte, Arbeit zu finden.
Obwohl Finchen ihr gesagt hatte, dass Lina erst später nachHause kommen würde, war sie gleich losgelaufen, so als hätte sie Angst, dass ihr jemand die Stelle wegschnappen könnte.
Lina bat Antonie um einen Tee und brachte Zita in ihr Büro.
«Sie wissen, weshalb ich Sie habe kommen lassen?», fragte Lina.
«Ja.» Zita versuchte, ihre Freude zu unterdrücken. «Es tut mir sehr leid um Ihre Näherin, Frau Borghoff, das müssen Sie mir glauben. Aber für mich wäre es großes Glück, wenn Sie mich beschäftigten, bis sie wieder gesund ist.»
Antonie brachte die Teekanne und zwei Tassen, und Lina schenkte ihnen ein.
«Sie müssen sich natürlich erst bewähren. Haben Sie schon mit einer Maschine genäht?»
Zita verneinte.
«Dann müssen Sie das schnell lernen. Susanna wird es Ihnen zeigen. Sie erhalten zunächst drei Silbergroschen am Tag, falls ich Sie endgültig fest einstelle, werden es fünf Silbergroschen sein. Die Arbeit beginnt pünktlich um sieben und endet um sechs, die Kost während der Arbeitszeit, auch Frühstück und Abendessen, ist frei. Sonntags arbeiten wir nicht, es sei denn, es ist kurz vor der Ballsaison. Und ich werde Sie nur so lange beschäftigen, bis Anna wieder da ist. Sind Sie einverstanden damit?» Sie hielt Zita die Hand hin, und die schlug ein.
«Gut, Zita. Dann bist du ab heute eine von Frau Borghoffs Näherinnen. Aber die laufen nicht in bunten Röcken herum. Geh bitte hinüber in den Laden, dort gibt es Konfektionsröcke in dunklen Farben. Christian soll dir einen in deiner Größe geben. Und morgen früh erwarte ich dich pünktlich in der Werkstatt.»
Zita hatte den neuen Rock, ein schlichtes Stück aus dunkelgrauer Wolle, gleich anbehalten. Er war nicht nur unauffälligerals der alte, bunte, sondern auch viel wärmer. Glücklich summte sie vor sich hin, als sie den Laden verließ. Sie hatte Arbeit, ehrbare Arbeit, und es ging wieder aufwärts. Sie machte sich keine Sorgen, dass es nur eine Übergangstätigkeit bis zu Annas Genesung war. Wenn sie sich bei Lina bewährte, würde für sie vielleicht auch danach noch ein Platz in der Werkstatt sein.
Zita war so in ihrem Tagtraum vom ehrbaren Leben versunken, dass sie fast in einen Mann hineinlief, der aus einem Hauseingang getreten war.
«Entschuldigung», sagte sie, ohne richtig hinzusehen. Sie wollte schnell weiter, um Hermann die freudige Nachricht zu bringen. Aber eine Hand schloss sich um ihren Arm und hielt sie eisern fest.
«Ja, da schau her, wenn das nicht die Zita ist», sagte eine Stimme, die sie nie mehr hatte hören wollen. Der näselnde Klang der Wiener Vorstadt, ein mächtiger brauner Schnauzbart unter einer riesigen Nase, kleine, fast schwarze Augen und ein kahler Kopf.
«Uli!», entfuhr es ihr. Sie hatten sie gefunden.
Ulrich Weingart, der wichtigste Helfershelfer des Greifers, hatte Zita in eine Altstadtkneipe geschleift, sie in eine Bank geschubst und sich ganz eng neben sie gesetzt. In Zitas Kopf arbeitete es. Wie hatten sie sie gefunden? Seit ihrer Flucht nach Tomasz’ Ermordung hatte sie nie das Gefühl gehabt, verfolgt zu werden, obwohl sie auf der Hut war und immer auf jedes Anzeichen dafür achtete. Sie war zu unwichtig, hatte sie sich schließlich gesagt, die Frau eines vermeintlichen Verräters, mittellos in der Fremde, nachdem sie Tomasz sein Geld abgenommen hatten. Oder waren sie wegen Hermann hier? Hatten sie nach ihm gesucht, und sie war ihnen zufällig dabei über
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