Das dunkle Netz der Lügen
wenigstens kurz aufwacht und wir ihr etwas zu trinken geben können …»
«Wir werden sehen … Sie müssen jetzt nach Hause gehen und etwas schlafen. Ganz herzlichen Dank für Ihre Hilfe.»
«Nebenan ist der arme Kleine aufgebahrt … Wer tut nur so etwas Schreckliches?» Auch Lina wusste darauf keine Antwort. Elsbeth raffte ihr Tuch zusammen und ging.
Lina war gerade dabei, Anna das Gesicht abzuwischen, als Walther Jansen den Kopf durch die Tür steckte. «Ist sie aufgewacht?», fragte er.
«Nein», antwortete Lina knapp.
Wenig später kam der Doktor. «Der Puls geht schneller als gestern.»
«Ist das ein gutes Zeichen?»
Er schüttelte den Kopf. «Nicht, wenn sie Fieber hat.» Er fühlte ihre Stirn. «Etwas Temperatur, aber nicht sehr viel. Trotzdem müsste sie dringend Flüssigkeit zu sich nehmen.»
Er wechselte den Verband. Die tiefen Platzwunden hatten sich glücklicherweise nicht entzündet. «Wenn sie heute nicht aufwacht, wird sie sterben, Frau Borghoff.»
Lina saß am kleinen Tisch in der Kammer. Sie hatte ihre Zeichenutensilien mitgebracht. Zwar war das Licht, das durch das kleine Fenster fiel, nur spärlich, doch für erste grobe Skizzen der Kleider für Elise von Sannberg reichte es.
Gegen elf Uhr unterbrach Lina ihre Arbeit. Anna hatte sich nach wie vor nicht gerührt. Weder Frieda noch Walther Jansen hatten in der Zeit nach ihr gesehen, aber Lina entschuldigte das mit der Trauer um den kleinen Walther. Sie setzte sich auf die Bettkante, streichelte Annas Hand und legte sie in ihre. Plötzlich spürte sie ein leichtes Zucken. Sie drückte die Hand der Kranken leicht und spürte dann, wie diese kaum merklich ihre Hand drückte.
«Anna?», sagte sie leise. Wieder wurde ihre Hand gedrückt, dann bewegte sich die Kranke.
«Ganz ruhig. Bewege deinen Kopf nicht, Anna. Er ist böse verletzt.» Sie stand auf, holte die kleine Milchkanne, die sie gefüllt von zu Hause mitgebracht hatte, aus ihrem Korb und ein Papiertütchen, in dem sich etwas Grieß befand. Da sie in der Küche der Jansens keinen sauberen Topf finden konnte, erhitzte sie die Milch kurzerhand in der Metallkanne und kochte einen ganz dünnen Grießbrei. Frieda Jansen kam nachsehen, was in der Küche los war.
«Haben Sie Honig?», fragte Lina.
Die Alte holte einen kleinen Steintopf hervor, und Lina süßte den Brei. «Die Küche könnte auch ein wenig mehr Ordnung vertragen. Hier gibt es ja kaum ein sauberes Stück Geschirr.»
«Ja, das sage ich Anna auch immer.» Die Alte war wirklich unverbesserlich. «Alles bleibt liegen, sie hat nur ihre Näharbeit im Kopf …»
Lina platzte der Kragen. «Anna liegt nebenan auf Leben und Tod. Und vorher hat sie sechs Tage die Woche elf Stunden gearbeitet und sich dazu noch um den Kleinen gekümmert. Wer hat Ihnen, Frau Jansen, eigentlich gesagt, dass man als Schwiegermutter keinen Handschlag mehr tun muss? Ihr versoffener Sohn ist offensichtlich nicht in der Lage, seine Familie zu ernähren. Annas Verdienst ist das einzige Einkommenhier, und es ernährt auch Sie! Und wie danken Sie es ihr?»
Lina war bekannt dafür, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm. Frieda Jansen sah betreten zu Boden. «Ich habe mein Leben lang hart gearbeitet. So etwas muss ich mir nicht anhören.»
Lina drückte ihr eine schmutzige Schüssel in die Hand. «Waschen Sie das ab. Sofort.»
Widerwillig goss die Alte etwas Wasser in die Spülschüssel und versenkte das verklebte Teil darin. Dann säuberte sie es mit einem Spüllumpen und trocknete es mit ihrer fleckigen Schürze.
«Danke», schnaubte Lina und drückte Frieda Jansen einen Löffel in die Hand. «Damit können Sie gleich weitermachen.» Sie schüttete vorsichtig den Brei in die Schüssel, nahm Frieda dann den Löffel ab und ging wieder in Annas Kammer.
«Ist sie aufgewacht?», fragte Frieda, die hinterherkam.
«Möglicherweise. Ich werde versuchen, ihr etwas hiervon einzuflößen. Haben Sie noch ein Kissen? Dann bringen Sie es her.»
Lina, die jahrelang ihren kranken Vater gepflegt hatte, zog Anna ganz vorsichtig hoch und schob ihr dann das zweite Kissen in den Rücken. Wieder spürte sie, dass die Kranke reagierte.
«Anna, ich werde dir jetzt etwas Brei geben. Du musst versuchen zu schlucken, hast du verstanden?»
Jetzt kam sogar ein Nicken, aber dem folgte gleich ein Stöhnen.
«Halte den Kopf ganz ruhig», wiederholte Lina noch einmal und breitete ein Leinentuch aus ihrer Tasche als Latz aus.
Der erste Löffel der dünnen Suppe ging
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