Das dunkle Netz der Lügen
einem großen Teil der Aussagen. Es hatte wie vermutet immer eine größere Ablenkung gegeben. Ein paarmal war das ein ähnlicher Streit zwischen Kunden und Händlern gewesen wie der, den Ebel zu schlichten versucht hatte, als er selbst Opfer der Diebe wurde. Aber meist war es etwas anderes gewesen. Viele berichteten, dass ein kleines Kind an der Hand eines älteren Geschwisterchens hingefallenund herzzerreißend geweint hatte. Meist ließ sich der Kleine gar nicht beruhigen, schrie vor Schmerzen, dass einige Passanten ihn sogar schon zum Arzt bringen wollten. Ein paar andere erzählten von zwei Jungen, die eine heftige Rauferei begannen und kaum zu trennen waren.
«Kinder», sagte Robert und legte die Berichte beiseite. «Vielleicht sind die Diebe auch Kinder. Ein Kind kann sich leicht unter einem Marktstand verstecken und das Wechselgeld, das die Kunden auf den Tisch legen, um erst ihre Ware einzupacken, greifen.»
«Und im Gedränge fallen sie nicht auf», ergänzte Ebel.
«Ich will morgen alle Leute auf dem Altstadtmarkt haben – in Zivil. Nur Sie und ich werden Uniform tragen, damit niemand Verdacht schöpft.»
«Ein guter Plan!», sagte Ebel anerkennend. «Hoffen wir mal, dass wir so dem Spuk ein Ende setzen.»
Nach dem Abendessen schickte Lina alle nach Hause. «Wir haben heute viel geschafft, da müssen wir nicht bis in die Nacht arbeiten. Ruht euch ein wenig aus. Bis morgen früh!»
Robert hatte es sich bereits im Salon gemütlich gemacht und Lina einen Cognac eingeschenkt.
«Was habt du und Ebel eigentlich ausgeheckt?», fragte Lina neugierig.
Robert erzählte von dem Verdacht, dass es Kinder sein könnten, die die kleinen Taschendiebstähle begingen.
«Aber da müssen doch Erwachsene dahinterstecken», sagte Lina zweifelnd.
«Wahrscheinlich. Ich hoffe, wenn wir die kleinen Diebe fassen, kriegen wir auch die großen. Aber jetzt genug von meinen langweiligen Geschäften. Und wie war dein Tag?»
«Wir haben viel geschafft, bis morgen Abend ist alles fertig.»
Lina gähnte. «Ich bin so froh, wenn der Erste Mai endlich gekommen ist. Am liebsten würde ich gar nicht zu dem Ball gehen.»
Robert lächelte. «Aber ich weiß doch, dass du auch dir selbst ein sehr schönes Kleid genäht hast. Und Antonie musste meine Ausgehuniform ausbürsten.»
Auch wenn Lina nicht tanzen konnte, liebte sie Bälle. Die Musik, die schönen Kleider, die vielen Menschen … Und seit sie selbst die Schöpferin eines großen Teils der Damengarderobe bei solchen Anlässen war, hatte sie noch mehr Freude daran.
«Ja, aber es war einfach zu viel Arbeit in den letzten Wochen. Und dann das Durcheinander hier im Haus wegen Finchen. Ich sehne mich nach einem ruhigen Abend und einem richtig langweiligen Sonntag.»
«Das wird auch wieder kommen, Lina. Irgendwann, wenn die Sommerbälle vorbei sind oder nach der Herbstsaison, ganz bestimmt aber nach den Winterbällen …»
Er duckte sich weg, weil Lina mit einem Holzuntersetzer nach ihm warf. «Mach dich nur lustig!»
«Das tue ich nicht. Ich weiß doch die Früchte der Arbeit meiner reichen Frau zu schätzen!» Er musste sich ein zweites Mal wegducken.
«Ich weiß genau, dass du unzufrieden bist, wenn du nicht viel Arbeit hast.» Robert lächelte. «Freuen wir uns doch auf den Ball! Und gib den Leuten einen Tag frei für die Sonntage, an denen sie arbeiten mussten. Dann haben wir am Ersten Mai einen ruhigen Tag. Was hältst du davon?»
«Das ist eine gute Idee. Ich habe viel Geld verdient, da kann ich die Angestellten ruhig ein wenig verwöhnen.» Wieder musste Lina gähnen. «Es tut mir leid, Robert, aber ich muss ins Bett.»
Er ging mit, um ihr aus den Schuhen zu helfen, setzte sichdann aber noch mit einem Buch in den Salon. Dies waren die ersten ruhigen Minuten an diesem Tag.
Viele Menschen drängten sich auf dem Altstadtmarkt um die Stände, denn es gab nur wenig Raum auf dem kleinen Platz, der erst entstanden war, als man vor rund fünfzehn Jahren die alte Kirche abgerissen und in der Neustadt eine neue gebaut hatte.
Wie angeordnet, verteilten sich alle Ruhrorter Polizisten unerkannt, weil ohne Uniform, über den ganzen Markt. Ebel und Commissar Borghoff begannen, die Stände zu kontrollieren und das Marktgeld einzusammeln. Alle hatten die Anweisung, besonders auf Kinder zu achten, doch zunächst geschah gar nichts. Vier Stunden patrouillierten Borghoff und sein Inspektor über den Markt, dann begann es auch noch zu regnen.
«Ich weiß nicht, ob es sich
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