Das dunkle Netz der Lügen
Grete. «Die beiden geben heute wirklich eine Menge Geld aus.»
«Es wird nur einmal im Jahr in den Mai getanzt», sagte Zita.
«Oh, du solltest die beiden mal auf der Kirmes sehen!»
Gretes Mann hatte offensichtlich keine Lust auf eine Unterhaltung und drängte Grete zum Aufbruch. «Jedes Jahr verdirbt der Alte uns den Spaß, indem es ihm schlechtergeht», murrte Grete.
«Du solltest dich schämen!», herrschte ihr Mann sie an.
«Aber es ist doch so! Morgen ist er wieder munter, wart’s nur ab.»
Das Tanzen machte hungrig und durstig. Zita und Hermann leisteten sich Schmalzbrote und probierten auch den Maiwein, aber beide tranken nicht viel. Sie saßen an einem der Tische und redeten im Wiener Dialekt lange über alte Zeiten – die ganz alten Zeiten, als noch alles in Ordnung gewesen und der Greifer nicht mehr gewesen war als der Primus inter Pares. Damals träumte er immer von den Tagen, als die großen Räuberbanden noch Wälder und Land unsicher machten. Sein Großvater hatte zu der berüchtigten Siechenhausbande gehört,die sich als Kranke und Krüppel verkleideten, wenn sie auf Raubzug gingen.
Aber seit den vierziger Jahren gab es nichts Vergleichbares mehr. In den modernen Zeiten war kein Platz für sie. Man fuhr mit der Eisenbahn statt mit der Postkutsche, es gab Telegraphen, mit denen blitzschnell Nachrichten verbreitet werden konnten, die Polizeien waren zunehmend organisiert. Der Greifer hatte sich gut der neuen Zeit angepasst mit seinen vielen kleinen und großen Geschäften und den gelegentlichen Raubzügen.
«Könnt ihr kein Deutsch?», fragte plötzlich ein leicht angetrunkener Schiffer, der Zita schon den ganzen Abend angestarrt hatte.
Die beiden kannten solche Typen. Wenn sie darauf eingingen, gäbe es früher oder später eine Schlägerei. Ohne ein Wort standen sie auf und gingen.
Sie fanden ein anderes Lokal, hier gab es nur einen Klavierspieler und einen Geiger, aber sie spielten sehr schön zum Tanz auf. In der kleinen Kneipe drängten sich einige Pärchen. Es war wenig Platz, sodass man sehr eng tanzen musste.
Jetzt, wo sie sich so nah waren, verging ihnen die Lust am Reden. Sie tanzten schweigend miteinander, als sei das die ernsthafteste Sache der Welt, spürten einander, hofften, dass der andere das Herzklopfen nicht fühlte.
«Zita, du bist so schön!», sagte Hermann auf einmal. Dann grub er sein Gesicht in ihre schwarzen Locken. Langsam drehte sie ihr Gesicht und suchte seinen Mund. Sie wusste, jeder hier konnte ihnen zusehen, aber sie musste ihn einfach küssen.
«Lass uns nach Hause gehen», flüsterte er ihr ins Ohr.
Als Lina nach einem längeren Gespräch am Tisch der Haniels wieder zurückkehrte, waren Cornelius und Elise gerade imAufbruch begriffen. Obwohl Elise nicht den Eindruck machte, dass es ihr wieder schlechterging, hatte sie den Wunsch geäußert, nach Hause zu gehen.
Es war erst kurz vor Mitternacht, und man konnte Cornelius sein Bedauern ansehen. Aber er war auch besorgt um seine Frau. «Bitte, liebe Freunde, nehmt das nicht zum Anlass, den Ball auch so früh zu verlassen. Feiert so, wie ihr es von mir gewöhnt seid: lang und fröhlich!»
Das ließen sich seine Gäste nicht zweimal sagen. Als das Orchester gegen halb drei Uhr Schluss machte, saßen sie immer noch lachend und scherzend am Tisch, inzwischen bei ein paar Flaschen gutem Wein, denn der Maiwein war kurz nach ein Uhr bereits ausgegangen. Der Bürgermeister und seine Frau gesellten sich zu der ausgelassenen Runde, weil ihnen die Tischgenossen abhandengekommen waren. Weinhagen konnte herrliche Geschichten erzählen, und Lina tat fast der Bauch weh vor Lachen.
Der Dirigent des Gesangvereins hatte sich des Klaviers bemächtigt, und ein paar Unermüdliche tanzten immer noch. Dazu gehörten auch Gustes Tochter Emma und ihr Verlobter, ein junger Offizier, der in einer der Düsseldorfer Kasernen stationiert war. Guste hatte die beiden den ganzen Abend nicht aus den Augen gelassen, um bei jeder Unschicklichkeit gleich einschreiten zu können. So musste sie als zukünftige böse Schwiegermutter viel Spott ertragen, am meisten von der spitzzüngigen Lina, die schon aus reiner Lust am Witz gern einmal jemanden aufzog. Als es langsam auf vier Uhr zuging, war jedoch selbst Lina nicht mehr schlagfertig. Sie hatte den ganzen Abend über fleißig dem Wein zugesprochen und war jetzt langsam besorgt, ob sie überhaupt noch aufstehen konnte. Glücklicherweise trank Robert bei solchen Feierlichkeiten nur wenig,
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