Das dunkle Netz der Lügen
wirkte aber, als wäre es für genau dieses Kleid angefertigt worden.
Lina rief Antonie, damit sie ihr in ihre neuen Schuhe half. Wenn sie schon keine schönen Ballschuhe tragen konnte, sondern nur die gewohnten schwarzen Stiefel, so sollten die wenigstens makellos sein.
Antonie half ihr auch, die neue, noch weitere Krinoline anzuziehen, einen violetten Tüllunterrock, der unter dem Kleid hervorblitzen sollte, und schließlich das Kleid selbst.
Bewundernd sah sie ihre Chefin an. «Das ist so schön, Frau Borghoff! Sie müssen es Finchen zeigen!»
«Aber die hat es doch schon gesehen, wenn sie hier aufgeräumt hat!»
«Aber richtig schön wird es doch erst an Ihnen …», sagte Antonie und errötete.
Lina tat Antonie den Gefallen. Sie sah noch kurz bei den Näherinnen vorbei, die alle aufsprangen und das Kleid über alle Maßen lobten.
«Ihr könnt jetzt nach Hause gehen, ihr habt ja sicher heute Abend noch etwas vor.» Sie wusste, die Frauen wollten auch am Abend ausgehen, selbst Zita hatte erzählt, dass ihr Freund Hermann sie zum Tanz eingeladen hatte.
«Hinten im Lager ist ein Korb mit alten Kleidern von mir, die ich irgendwann einmal ändern wollte. Wenn euch etwas gefällt, könnt ihr es euch nehmen.» Das ließen sich die Frauen nicht zweimal sagen.
Gemeinsam mit Antonie ging Lina hinüber ins andere Haus. Finchen stand seit kurzem ein paar Stunden am Tag auf. Sie trug den gebrochenen Arm noch in einer Tuchschlinge, hatte aber begonnen, wieder einige Aufgaben im Haushalt zu übernehmen. Sie saß am Küchentisch und füllte das Haushaltsbuchaus, auch wenn ihre Schrift mit der linken Hand sehr krakelig war.
Finchen kam in den Flur, um Linas Kleid gebührend zu bewundern. Antonie war schon nach oben in ihr Zimmer gegangen, sie würde mit zwei anderen ledigen Hausmädchen und einem Hausknecht im Saal von Lohmann feiern.
«Im letzten Jahr hat Simon mich auch ausgeführt», sagte Finchen leise.
«Bereust du deine Entscheidung?», fragte Lina.
Finchen schüttelte den Kopf und deutete auf ihren Arm. «Das erinnert mich immer daran, warum es gut ist, dass er weg ist. Aber es ist schwer, wenn die Kinder nach ihm fragen.» Sie lächelte. «Lassen Sie sich bloß nicht von mir die Laune verderben, Frau Borghoff. Ich werde es mir mit Maria in meiner Wohnung gemütlich machen. Sie geht auch nicht aus.»
«Dann holt euch eine Flasche Wein aus dem Keller. Ruhig von dem guten Rheinwein.»
«Das werden wir. Vielen Dank!»
Nachdenklich ging Lina zurück durch den Stoffladen. Hier traf sie auf Zita, die die Werkstatt noch ein bisschen aufgeräumt hatte und sich nun für den Heimweg fertig machte.
«Hast du etwas gefunden?», fragte Lina.
«Ja! Sehen Sie!» Zita strahlte. Sie war die Einzige, der eines von Linas Kleidern perfekt passte, klein und zierlich wie sie war. Es war kein Ballkleid, das sie sich ausgesucht hatte, sondern ein feines Nachmittagskleid aus dünnem Baumwollstoff in einem dunklen Rot mit einem kurzen Jäckchen über einer hochgeschlossenen Bluse. «Ich werde statt des Oberteils meine ausgeschnittene Bluse dazu tragen, dann ist es sehr festlich.»
«Du hättest auch ein Ballkleid nehmen können!»
Zita schüttelte den Kopf. «Ich glaube nicht, dass irgendeine der einfachen Frauen auf der Tanzerei ein richtiges Ballkleidbesitzt, Frau Borghoff. Und hiermit falle ich schon genug auf. Aber ich finde es wirklich wunderschön!»
«Dann viel Spaß heute Abend!», sagte Lina. Ihr Blick fiel auf die Post, die Finchen wie gewöhnlich auf die Kommode im Flur gelegt hatte. Den ganzen Tag hatte sie noch keine Zeit gehabt hineinzusehen.
Lina wollte gerade mit der Post zurück nach oben in die Wohnung, als Robert vom Dienst nach Hause kam.
Zita, die sich verabschiedete, sah den liebevollen und auch stolzen Gesichtsausdruck, mit dem Robert seine Frau in dem neuen Kleid mit der festlichen Frisur ansah, und verspürte einen kleinen Stich. So hat mich Tomasz immer angesehen, dachte sie. Und er hatte sie auch so angesehen, wenn sie morgens verschlafen mit wirrem Haar vor ihm stand oder hochschwanger mit dickem Bauch.
Draußen auf der Straße fiel ihr plötzlich Hermann ein und wie er sie am Abend zuvor angeschaut hatte. War da mehr gewesen als ein Mann, der Gefallen daran fand, eine schöne Frau anzustarren?
Ganz Ruhrort schien auf den Beinen zu sein. Die feinen Leute in der Neustadt gingen zur Gesellschaft «Erholung» in der Dammstraße, viele der kleineren Händler und Handwerksmeister feierten
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