Das Dunkle Netz Der Rache
zum Spiegel. Abgesehen von den Blutergüssen, wirkten seine Augen genau wie immer, blassblau und geistesabwesend. Er wunderte sich, dass er so unverändert aussah. Dass seine Augen nicht verrieten, dass er einen Mann umgebracht hatte
Er zwinkerte. Aber technisch gesehen hatte er van der Hoeven eigentlich nicht umgebracht. Er hatte ihn einfach … fallen lassen. Sie hatten miteinander gekämpft, und möglicherweise hatte er ihn etwas heftiger gestoßen als nötig. Aber immerhin wusste er jetzt Bescheid. Kannte das Gefühl.
Er erinnerte sich an ein Gespräch mit Russ Van Alstyne. Er war noch aufs College gegangen, und Russ hatte seinen Fronturlaub zu Hause verbracht. Das hatte stattgefunden, bevor sie ihre unbeholfenen Versuche, ihre Freundschaft wieder aufleben zu lassen, aufgegeben hatten. Was ist das für ein Gefühl?, hatte er gefragt. Jemanden zu töten?
Man fühlt gar nichts, hatte Russ erwidert.
Komm schon, du musst doch irgendwas empfinden.
Russ hatte einen großen Schluck aus der Flasche Jack Daniels getrunken. Wenn du es tust, hatte er gesagt, ist dir heiß. Und du hast das Gefühl von irrer Geschwindigkeit. Wie Lauftraining in der Sauna.
Und danach?
Russ starrte in eine weite Ferne, sah einen Ort, den Shaun nicht erreichen konnte. Danach, sagte er, wird dir kalt.
Shaun blickte in seine fünfzigjährigen Augen und sah etwas, das Russ nicht erwähnt hatte.
Oder vielleicht hatte er das Gefühl damals mit seinen neunzehn Jahren nicht erkannt. Jubel. Und Macht. Sollte Terry McKellan doch hinter seinem Schreibtisch sitzen und ja oder nein sagen. Sollte sich der Verwaltungsrat von Reid-Gruyn doch am Tisch versammeln und dafür oder dagegen stimmen. Er hatte echte Macht ausgeübt, ultimative Macht. Er nahm sein Schicksal in die eigene Hand.
Nur nicht übermütig werden, ermahnte er sich. Die Ereignisse waren noch im Schwung, nichts war vorbei. Wenn er zu viel Druck ausübte oder zu wenig, konnte er wieder dort landen, wo er gewesen war, und darauf warten, dass Reid-Gruyn vom nächsten Schlag getroffen wurde. Nur würde er in einer Gefängniszelle warten. Aber wenn er schlau war und wagemutig und, am wichtigsten, gewillt, die Macht auszuüben, die er übernommen hatte … er betrachtete sie, bog die Finger. Erlaubte sich zum ersten Mal, seit er Millie van der Hoeven aus dem Turm gezerrt hatte, darüber nachzudenken, ob sich ein weiterer Unfall ereignen mochte.
15:05 Uhr
Lisa Schoof umklammerte den Hörer, als könnte das üble schwarze Ding explodieren, die Schrapnelle sich in ihr Fleisch bohren, ihr Blut in die Plastikwunden rinnen, ihr Leben aus hundert Öffnungen versickern, für die es keine Heilung gab, wenn sie ihren Griff auch nur einen Moment lockerte.
»Sag was«, flüsterte ihre Schwester durch die Leitung. »Um Gottes willen.«
Was ihr durch den Kopf ging, war nutzlos: Ich wünschte, du hättest nie angerufen, ich wünschte, ich wüsste es nicht, ich wünschte, es wäre zehn Minuten früher. Lisa versuchte gar nicht erst, sich zu vergewissern – Bist du sicher? Könnte es eine Verwechslung sein? –, weil Rachel, die kluge, präzise Rachel, solche Fehler nicht beging.
Sie räusperte sich. »Wie lange?«, fragte sie.
»Was, wie lange?«
»Bis es herauskommt.«
Rachel klickte mit den Zähnen. Eine Angewohnheit aus Kindertagen. »Ich kann es noch ungefähr eine halbe Stunde hinauszögern, den Arzt zu rufen, damit er sie untersucht. Sie ist noch schläfrig und hat gerade Medikamente genommen. Danach …«
Sie musste nicht weitersprechen. Lisa konnte es sich vorstellen. Die Patientin sagt es dem Arzt. Der Arzt sagt es der Polizei. Die Polizei verhaftet ihren Mann. Es erinnerte sie an das Lied, das sie als Kinder gesungen hatten. Ein Loch ist im Eimer …
»Danke«, sagte sie.
»Ich tue es für dich, nicht für ihn«, fuhr Rachel fort. »Falls es herauskommt, verliere ich meine Stelle. Von meiner Ehe ganz zu schweigen. Sei klug. Kümmer dich zur Abwechslung mal um dich selbst.«
»Danke«, wiederholte Lisa.
»Ich hab dich lieb«, sagte ihre Schwester.
»Ich hab dich auch lieb.«
Rachels Stimme wurde von einem tonlosen Summen ersetzt. Vorsichtig, vorsichtig legte Lisa den Hörer zurück auf die Gabel. In der Mikrowellentür sah sie flüchtig ihr verschwommenes Spiegelbild. Ich bin glücklich, dachte sie. Sie zwickte sich in die Wangen und fuhr sich schwungvoll durchs Haar. Es ist ein ganz normaler Samstagnachmittag. Sie schlenderte zurück ins Wohnzimmer.
Kevin Flynn, der die Fotos an
Weitere Kostenlose Bücher