Das dunkle Paradies
Thrace.« Sie spricht nun zum See, zum kalten Nachthimmel. »Sie war klug, stark, geachtet, aber sie brannte vor Ehrgeiz. Genau deshalb wollte sie auch niemand im Rat der Stadt haben, auch die Antwort nicht, und deshalb reagierte sie auch so heftig, als man sie bei der Wahl überging.« Sie blickt mich wieder an. »Sie hatte Leute, die sie unterstützten. Und sie führte ihren Feldzug mit Bomben. Ganz ähnlich wie der, den wir jetzt gegen den Bürgermeister führen, nur dass damals eigentlich Frieden herrschte.« Sie blickt hinauf zu den Monden. »Ihre Spezialität waren sogenannte Thrace-Bomben. Sie platzierte die Bomben an einem Ort, an dem sich Soldaten aufhielten. Sie waren als harmloses Paket getarnt und wurden erst scharf, wenn sie den Pulsschlag in einer Hand registrierten, die das Päckchen aufhob. Der Pulsschlag allein machte die Bombe gefährlich, die nur dann explodierte, wenn man sie losließ. Wenn man sie also fallen ließ oder nicht entschärfen konnte …«, sie zuckt die Schultern, »… wumm! «
Da schiebt sich eine Wolke zwischen die beiden aufgehenden Monde. »Das bedeutet Unglück«, murmelt Mistress Coyle düster.
Sie hakt sich wieder bei mir unter und gemeinsam gehen wir zum Lazarettzelt zurück. »Genau genommen gab es damals keinen neuen Krieg«, sagt sie. »Es waren eigentlich nur Scharmützel. Und zur Freude aller wurde Mistress Thrace dabei lebensgefährlich verletzt.«
Es tritt eine Stille ein, in der nur das Knirschen unserer Schritte und der Lärm der Männer weithin hörbar durch die Luft getragen werden.
»Aber sie starb nicht daran«, spreche ich für sie weiter.
Sie schüttelt den Kopf. »Ich bin eine sehr gute Heilerin.« Wir sind am Eingang des Lazarettzelts angekommen. »Ich kannte sie von klein auf, als wir noch in der alten Welt lebten. Mir blieb gar keine andere Wahl.« Sie reibt sich die Hände. »Deshalb warfen sie mich aus dem Rat der Stadt. Und dann haben sie sie trotzdem hingerichtet.«
Ich sehe sie an, versuche sie zu verstehen, versuche all das zu erkennen, was gut an ihr ist, und auch das, was sie so schwierig macht, versuche zu verstehen, wie sie zu dem Menschen geworden ist, der sie heute ist.
Wir haben die Wahl, was aus uns wird. Und wir müssen sie treffen, diese Wahl, ob wir wollen oder nicht.
»Bist du bereit?«, fragt sie.
»Ich bin bereit.«
Wir gehen ins Zelt hinein.
Meine Tasche ist bereit, Mistress Coyle hat sie eigenhändig gepackt, die Tasche, die ich auf Wilfs Fuhrwerk mitnehmen werde, die Tasche, die ich in die Stadt bringen werde. Sie ist voll mit Lebensmitteln, harmlosen Lebensmitteln, die, wenn alles nach Plan verläuft, meine Eintrittskarte in die Stadt sein werden, mein Passierschein, um an den Wachen vorbeizukommen, die mir Einlass in die Kathedrale gewähren werden.
Wenn alles gut geht. Wenn nicht, habe ich eine Pistole in einem Geheimfach im Taschenboden.
Die Heilerinnen Lawson und Braithwaite sind auch im Zelt, sie halten Arzneien bereit.
Und Lee ist da, wie ich ihn gebeten habe.
Er nimmt meine Hand, drückt sie, und ich spüre einen Zettel in meiner Handfläche. Er blickt mich an, sein Lärm ist voll von dem, was gleich passieren wird.
Ich falte den Zettel auf, und zwar so, dass keine der drei Frauen es sehen kann. Sie denken aber zweifellos, dass etwas Romantisches daraufsteht.
»Lass dir nichts anmerken«, lese ich. »Ich bin entschlossen, dich zu begleiten. Ich werde dich und das Fuhrwerk im Wald abpassen. Du willst den deinen finden und ich die meinen und keiner von uns beiden sollte alleine gehen.«
Ich lasse mir nichts anmerken. Ich falte den Zettel wieder zusammen und nicke ihm so verstohlen wie nur möglich zu.
»Viel Glück, Viola«, sagt Mistress Coyle, und gleich darauf werden diese Worte von den anderen wiederholt, zuletzt auch von Lee.
Ich hatte es mir gewünscht. Ich hätte es nicht ertragen können, wenn Mistress Coyle diejenige gewesen wäre, und ich weiß, dass Lee am behutsamsten von allen sein wird.
Denn es gibt nur einen Weg, wie ich, ohne gefangen zu werden, durch New Prentisstown gehen kann. Nur einen Weg, wie wir aufgrund unserer Erkundigungen wissen.
Nur einen Weg, wie ich Todd finden kann.
»Bist du bereit?«, fragt Lee, und es hört sich aus seinem Mund so anders an. Wenn ich die Worte von ihm höre, macht es mir gar nichts aus, dass ich schon wieder danach gefragt werde.
»Ich bin bereit«, antworte ich.
Ich strecke meinen Arm aus und kremple den Ärmel hoch.
»Mach schnell. Bitte.«
»Das
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