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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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vielleicht sogar noch heute eintreffen wird, Gerüchte darüber, dass wir alle ausgelöscht werden sollen, obwohl wir uns ergeben haben.«
    Sie blickt mich scharf an. »Und dann bist da noch du, Mädchen.«
    Ich wende den Blick von ihr ab. »Ich bin nichts Besonderes.«
    »Wirklich nicht?« Sie scheint mir nicht zu glauben. »Ein Mädchen, bei dessen Ankunft sich niemand auf den Straßen blicken lassen darf? Ein Mädchen, dessen Leben zu retten man mir befiehlt, wenn ich mein eigenes Leben nicht aufs Spiel setzen will? Ein Mädchen«, sie beugt sich vor, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich zuhöre, »das eben erst aus dem schwarzen Nichts zu uns nach New World gekommen ist?«
    Ich halte für eine Sekunde den Atem an und hoffe, dass sie es nicht bemerkt. »Wie kommt Ihr darauf?«
    Sie lächelt wieder, aber nicht unfreundlich. »Ich bin eine Heilerin. Das Erste, was ich an einem Menschen sehe, ist seine Haut. Die Haut erzählt die Geschichte eines Menschen: wo er gewesen ist, was er gegessen hat, wer er ist. Du trägst zwar Kleider, aber die Haut darunter ist die zarteste und weichste, die ich in meinen zwanzig Jahren als Heilerin gesehen habe. Zu zart und zu weich für einen Planeten, auf dem nur Bauern leben.«
    Ich schaue sie noch immer nicht an.
    »Und dann sind da natürlich noch die Gerüchte, die die Flüchtlinge mitgebracht haben. Es heißt, dass Siedler auf dem Weg zu uns sind. Tausende von Siedlern.«
    »Bitte«, flehe ich leise und kämpfe wieder mit den Tränen.
    »Und kein Mädchen aus New World würde jemals eine Frau fragen, ob sie eine Ärztin ist«, sagt sie zum Schluss.
    Ich muss schlucken. Ich halte mir die Hand vor den Mund. Wo ist er? Das alles ist mir ganz egal, nur eines interessiert mich: Wo ist er?
    »Ich weiß, dass du Angst hast«, sagt Mistress Coyle. »In dieser Stadt herrscht ohnehin viel zu viel Angst und ich kann nichts dagegen tun.« Sie streckt die Hand aus und berührt meinen Arm. »Aber vielleicht kannst du etwas tun, um uns zu helfen.«
    Ich schlucke und sage kein Wort.
    Es gibt nur einen Menschen, dem ich vertrauen kann.
    Und der ist nicht hier.
    Mistress Coyle lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. »Wir haben dir das Leben gerettet, Mädchen«, sagt sie. »Ein wenig von deinem Wissen wäre ein großer Gewinn für uns.«
    Ich hole tief Luft, blicke mich im Zimmer um, bemerke die Sonnenstrahlen, die zum Fenster hereinfallen, durch das man hinaus auf Bäume und einen Fluss sehen kann, auf jenen Fluss, dem wir gefolgt sind bis zu einem Ort, wo wir uns in Sicherheit wähnten, und es scheint ganz und gar unmöglich, dass an einem so strahlend schönen Tag irgendwo irgendetwas Schlimmes passieren kann – dass Gefahr vor der Haustür lauert, dass eine Armee anrückt.
    Aber es wird eine Armee kommen.
    Daran gibt es keinen Zweifel.
    Und das wird Mistress Coyle ganz und gar nicht gefallen. Dabei weiß ich noch immer nicht, was mit ihm geschehen ist.
    Dieser Gedanke versetzt mir einen Stich.
    Ich hole tief Luft.
    Und dann fange ich an zu reden.
    »Ich heiße Viola Eade …«
    »Noch mehr Siedler, sagst du?«, fragt Maddy und lächelt mich an. Ich liege auf der Seite, während sie den schweren Verband um meine Taille löst. Die Innenseite ist mit Blut verklebt, meine Haut ist schmutzig und dort, wo das Blut geronnen ist, rotbraun. In der Magengegend ist ein kleines Loch, das mit einem dünnen Faden zugenäht ist.
    »Warum tut das nicht weh?«, frage ich.
    »Die Binden sind mit Jefferswurzel bestrichen«, erklärt mir Maddy. »Ein natürliches Schmerzmittel. Man spürt nichts, aber man kann einen Monat lang nicht auf die Toilette gehen. Und es ist so stark, dass du in fünf Minuten tief schlafen wirst.«
    Vorsichtig, ganz vorsichtig taste ich die Haut rund um die Schusswunde ab. Auf meinem Rücken ist noch eine ähnliche Wunde, dort wo die Kugel eingetreten ist. »Weshalb bin ich nicht tot?«
    »Wäre es dir lieber, du wärst daran gestorben?« Sie lächelt wieder und dann wird aus dem Lächeln ein Stirnrunzeln. »Aber ich sollte über so etwas keine Scherze machen. Mistress Coyle sagt immer, mir fehle es ›am nötigen Ernst‹, um eine richtige Heilerin zu werden.« Sie taucht ein Tuch in eine Schale mit warmem Wasser und beginnt, meine Wunden zu säubern. »Du bist noch am Leben, weil Mistress Coyle die beste Heilerin in ganz Haven ist, besser als die sogenannten Doktoren dieser Stadt. Sogar Bösewichte wissen das. Weshalb sonst hätten sie dich hierhergebracht statt in ein

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