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Das dunkle Paradies

Das dunkle Paradies

Titel: Das dunkle Paradies Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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Coyle.«
    Ich blinzle und blinzle und allmählich erkenne ich meine Umgebung. Ich liege hier in einem schmalen weißen Bett in einem schmalen weißen Zimmer. Ich habe einen dünnen, weißen Kittel an, der am Rücken zugeschnürt ist. Eine Frau, groß und kräftig, steht vor mir, sie trägt einen weißen Umhang, auf den zwei ausgestreckte blaue Hände gestickt sind, ihr Mund ist schmal wie ein Strich, ihre Miene undurchdringlich. Mistress Coyle. Hinter ihr, an der Tür, steht mit einer Schüssel heißem Wasser ein Mädchen, das kaum älter ist als ich.
    »Ich bin Maddy«, sagt sie und ein Lächeln stiehlt sich auf ihr Gesicht.
    Ohne sich auch nur umzudrehen, sagt Mistress Coyle streng: »Raus mit dir.« Als Maddy geht, fängt sie meinen Blick auf und schenkt mir noch ein Lächeln.
    »Wo bin ich?«, frage ich Mistress Coyle mit fliegendem Atem.
    »Meinst du, in welchem Raum du bist, Mädchen? Oder meinst du, in welcher Stadt du bist?« Sie schaut mich prüfend an. »Oder willst du wissen, auf welchem Planeten du bist?«
    »Bitte«, flehe ich. Plötzlich stehen Tränen in meinen Augen, und das ärgert mich, aber ich rede weiter. »Ich bin mit einem Jungen gekommen.«
    Sie seufzt und schaut einen Moment lang zur Seite, dann presst sie die Lippen zusammen und setzt sich mit ernster Miene auf einen Stuhl neben dem Bett. Ihre Haare sind in Zöpfen zurückgebunden, die so straff geflochten sind, dass man vermutlich an ihnen hochklettern kann, und sie ist von kräftiger, hochgewachsener Statur, also beileibe niemand, mit dem man Ärger haben möchte.
    »Es tut mir leid«, sagt sie beinahe sanft. Aber nur beinahe. »Von einem Jungen weiß ich nichts.« Sie legt die Stirn in Falten. »Ich fürchte, ich weiß so gut wie gar nichts, ich weiß nur, dass man dich gestern Morgen in dieses Haus der Heilung gebracht hat und du dem Tod so nahe warst, dass ich große Zweifel hatte, dich retten zu können. Aber man hat uns deutlich zu verstehen gegeben, dass unser eigenes Leben davon abhängt, dass wir deines retten.«
    Sie macht eine kleine Pause, um zu sehen, wie ich diese Nachricht aufnehme.
    Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.
    Wo ist er?
    Was haben sie mit ihm gemacht?
    Ich wende ihr den Rücken zu und versuche nachzudenken. Der Verband um meine Taille ist so fest, dass es mir Mühe macht, mich aufzusetzen.
    Mistress Coyle reibt sich mit den Fingern über die Schläfen. »Und nun, da du dem Leben zurückgegeben bist«, sagt sie, »bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob du uns dafür danken wirst, dass wir dich in diese Welt zurückgeholt haben.«
    Sie erzählt mir, dass Bürgermeister Prentiss in Haven angekommen sei, als noch die Gerüchte umliefen, dass eine Armee anrücke, eine große Armee, so groß, dass sie mühelos die Stadt in Schutt und Asche legen könne, groß genug, um die ganze Welt in Brand zu setzen. Sie erzählt mir, dass ein gewisser Bürgermeister Ledger sich daraufhin ergeben habe. Dass er die Handvoll Einwohner, die bereit gewesen seien zu kämpfen, niedergebrüllt habe. Dass die meisten Leute seiner Meinung gewesen seien. Dass er den Eindringlingen die Stadt auf dem Silbertablett serviert habe. »Und dann«, fährt sie fort und blanke Wut schwingt in ihrer Stimme mit, »wurden die Häuser der Heilung zu Gefängnissen für die Frauen.«
    »Also seid Ihr eine Ärztin?« Ich spüre, wie sich ein ungeheures Gewicht auf meine Brust legt und sie zusammendrückt, weil wir versagt haben, sie zusammendrückt, weil es völlig zwecklos war, vor der Armee davonzulaufen.
    Ihr Mund verzieht sich, es ist ein flüchtiges, ein verstohlenes Lächeln, so als hätte ich mich gerade verraten. Aber es ist kein grausames Lächeln, und ich merke, dass ich nicht mehr so viel Angst habe vor ihr, nicht mehr so viel Angst habe vor dem, was es bedeuten könnte, dass ich in diesem Zimmer liege, nicht mehr so viel Angst habe vor mir selbst, sondern dass ich am meisten Angst habe um ihn.
    »Nein, Mädchen«, antwortet sie und wirft den Kopf in den Nacken. »Du weißt ja sicher, dass es in New World keine weiblichen Ärzte gibt. Ich bin eine Heilerin.«
    »Wo ist der Unterschied?«
    Wieder fährt sie sich mit den Fingern über die Schläfen. »Eine gute Frage: Wo ist der Unterschied?« Sie lässt die Hände in den Schoß sinken und betrachtet sie. »Man hat uns zwar eingesperrt«, fährt sie fort, »dennoch dringen Gerüchte bis zu uns. Gerüchte, dass in der Stadt die Männer und die Frauen getrennt werden, Gerüchte, dass die Armee

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