Das dunkle Paradies
durfte?«
Wie sich herausstellt, hat man ihn zur Arbeit als Müllmann abkommandiert.
»Ehrenwerte Arbeit«, sagt er achselzuckend, aber in seinem düstergrauen Lärm höre ich Gedanken, die zeigen, dass er diese Arbeit beim besten Willen nicht als ehrenwert betrachtet. »Es ist das Spiegelbild meines Lebens, wenn man so will. Ich war ganz oben und jetzt bin ich ganz unten. Es wäre schon fast poetisch, wenn es nicht so banal wäre.«
Neben meinem Bett steht auch eine Schüssel Eintopf, ich nehme sie und gehe damit ans Fenster, um auf die Stadt hinauszusehen.
Eine Stadt, die brummt.
Man kann es hören, wie die Arznei im Blut der Männer immer weniger wird. Man hört es aus den Häusern und Gebäuden, aus den Seitenstraßen und zwischen den Bäumen.
Der Lärm kehrt nach New Prentisstown zurück.
Es war schon schwer genug für mich, durch das alte Prentisstown zu gehen, und dort lebten nur hundertsechsundvierzig Männer. In New Prentisstown leben bestimmt zehnmal so viele. Und nicht nur Männer, sondern auch Jungen.
Keine Ahnung, wie ich das aushalten soll.
»Du wirst dich dran gewöhnen«, sagt Bürgermeister Ledger, der inzwischen seinen Eintopf aufgegessen hat. »Ich habe zwanzig Jahre lang hier gelebt, ehe wir die Arznei gefunden haben.«
Ich schließe die Augen, aber ich sehe sofort eine Horde von Spackle vor mir, die mich anstarrt. Die mich richtet.
Bürgermeister Ledger tippt mir auf die Schulter und deutet auf meine Schale mit Eintopf. »Isst du das noch?«
In dieser Nacht habe ich einen Traum.
Ich träume von ihr.
Die Sonne steht in ihrem Rücken und ich kann ihr Gesicht nicht erkennen, wir sind auf einem Berg und sie sagt etwas, aber das Donnern des Wasserfalls hinter uns ist zu laut. Ich frage: »Was ist?« Ich strecke die Hand nach ihr aus, aber ich kann sie nicht berühren, und als ich meine Hand sinken lasse, ist sie voller Blut …
»Viola!«, keuche ich und schrecke im Dunkeln hoch.
Ich schaue hinüber zu Bürgermeister Ledger, der auf seiner Matratze liegt und sein Gesicht abgewandt hat, aber sein Lärm ist nicht der Lärm eines Schlafenden, es ist der düstere Lärm, den er im wachen Zustand von sich gibt.
»Ich weiß, dass du nicht schläfst«, sage ich.
»Du träumst ziemlich laut«, antwortet er, ohne sich umzudrehen. »Ist sie jemand, der dir wichtig ist?«
»Das tut nichts zur Sache.«
»Wir müssen das durchstehen, Todd«, sagt er. »Das muss jeder von uns. Einfach nur am Leben bleiben und es durchstehen.«
Ich drehe mich zur Wand.
Ich kann nichts tun. Nicht, solange sie sich in Prentiss’ Gewalt befindet.
Nicht, solange ich gar nichts weiß.
Nicht, solange sie ihr wehtun können.
Bleib am Leben und steh es durch, Todd Hewitt.
Ich denke an sie, die irgendwo da draußen ist.
Und ich flüstere ihr zu, wo immer sie auch sein mag: »Bleib am Leben und steh es durch.«
Bleib am Leben.
TEIL II
Das Haus der Heilung – am Tag zuvor
5
Viola erwacht
(VIOLA)
»Ganz ruhig, Mädchen.«
Eine Stimme.
Grelles Licht.
Zögernd schlage ich die Augen auf.
Alles um mich herum ist so strahlend weiß, ich kann die Helligkeit fast hören, und irgendwo in diesem Licht ist eine Stimme, und in meinem Kopf schwirrt es, und meine Seite schmerzt, und es ist viel zu hell, und ich kann keinen einzigen klaren Gedanken fassen.
Moment mal …
Moment mal …
Er hat mich den Berg hinuntergetragen.
Gerade eben noch hat er mich den Berg hinuntergetragen, nach Haven.
»Todd?« Meine Stimme hört sich rau an, sie klingt nach Mullbinden und Speichel, aber ich kämpfe, zwinge sie hinaus in das grelle Licht, das meine Augen blendet. »Todd?«
»Ich habe gesagt, du sollst dich beruhigen.«
Ich kenne die Stimme nicht, es ist die Stimme einer Frau.
Einer Frau.
»Wer bist du?« Ich versuche mich aufzusetzen, strecke die Hände aus, befühle das, was mich umgibt, spüre die kühle Luft, die Weichheit eines …
… eines Betts?
Ich spüre, wie Entsetzen in mir hochsteigt.
»Wo ist er?«, schreie ich. »Todd?«
»Ich kenne keinen Todd, Mädchen«, sagt die Stimme, während die Konturen sich allmählich zu einem Bild fügen, das grelle Licht sich in weniger grelle Bilder auflöst, »aber ich weiß, dass du jetzt überhaupt nicht in der Verfassung bist, um Fragen zu stellen.«
»Sie haben auf dich geschossen«, sagt eine andere Stimme rechts von mir, sie klingt jünger als die erste.
»Willst du wohl ruhig sein, Madeleine Poole«, tadelt die erste Frauenstimme.
»Jawohl, Mistress
Weitere Kostenlose Bücher