Das dunkle Paradies
eine weitere Armee an.
Dieser Lärm ist ganz anders als der, den ich kenne. Zuerst war es ein seltsames Geräusch wie von Metall, das über Metall schrammt. Dann wurde er lauter, so als würden tausend Männer auf einmal schreien, und genau darum handelt es sich ja wohl auch, dieser Lärm ist viel zu laut und verworren, als dass man eine einzelne Person heraushören könnte.
Zu laut, um einen einzelnen Jungen herauszuhören.
»Vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm, wie wir alle glauben.« Maddys Stimme ist leise, sie wägt jedes Wort ab, als wollte sie seine Wirkung erst an sich selbst prüfen. »Ich meine, die Stadt macht einen friedlichen Eindruck. Sie ist laut, aber die Männer, die die Lebensmittel liefern, sagen, dass die Läden bald wieder geöffnet werden. Ich wette, dein Todd ist irgendwo da draußen, sicher und wohlauf, und arbeitet und wartet darauf, dich zu sehen.«
Ich weiß nicht, ob sie das sagt, weil sie es selbst glaubt, oder weil sie mich das glauben machen will. Ich wische mir die Nase am Ärmel ab. »Du könntest Recht haben.«
Sie sieht mich lange an, bestimmt geht ihr etwas durch den Kopf, aber sie sagt es mir nicht. Dann dreht sie sich wieder zum Fenster.
»Hör nur, wie laut sie brüllen«, sagt sie.
Außer Mistress Coyle gibt es hier noch drei weitere Heilerinnen. Mistress Waggoner, eine kleine, rundliche Frau mit Fältchen und einem kleinen Damenbart, Mistress Nadari, die Krebskranke behandelt und die ich bisher nur einmal zu Gesicht bekommen habe, als sie gerade die Tür hinter sich schloss, und Mistress Lawson, die sich in einem anderen Spital um die Kinder kümmert, aber jetzt in diesem Haus eingeschlossen ist, weil sie während der Übergabe der Stadt eine Besprechung mit Mistress Coyle hatte. Noch immer grämt sie sich unablässig wegen der kranken Kinder, die sie zurücklassen musste.
Es gibt auch noch weitere Gehilfinnen, ein Dutzend etwa außer Madeleine und Corinne, aber diese beiden scheinen die meiste Erfahrung zu haben, weil sie Mistress Coyle zur Hand gehen. Die anderen sehe ich kaum, außer wenn sie eine der Heilerinnen begleiten und sich mit baumelnden Stethoskopen und wehenden weißen Umhängen danach umschauen, ob es etwas für sie zu tun gibt.
Denn in Wirklichkeit ist es so: Je mehr Tage verstreichen und in der Stadt alles seinen Gang geht, was auch immer es sein mag, das sich vor unseren Türen abspielt, desto mehr Patienten werden wieder gesund, aber es kommen keine neuen nach. Maddy hat mir gesagt, schon in der ersten Nacht seien alle männlichen Patienten weggebracht worden, ob sie gehen konnten oder nicht, aber neue weibliche Patienten sind nicht eingeliefert worden, obwohl der Einmarsch der Armee und die Übergabe der Stadt ja niemanden davor verschonen, krank zu werden. Mistress Coyle macht sich deswegen Sorgen.
»Klar, wenn sie niemanden heilen kann, was soll sie dann mit sich anfangen?«, sagt Corinne und zieht den elastischen Schlauch, mit dem sie meine Venen staut, etwas zu stramm zu. »Sie war für alle Häuser der Heilung zuständig, nicht nur für dieses. Jeder kennt sie, jeder achtet sie. Eine Zeit lang war sie sogar Vorsitzende des Stadtrats.«
Ich kneife die Augen zusammen. »Sie hatte das Sagen in der Stadt?«
»Vor vielen Jahren. Zapple nicht so herum.« Sie sticht die Nadel fester in meinen Arm, als nötig gewesen wäre. »Sie hat immer gesagt: Wenn man ein Anführer ist, dann bringt man die Menschen, die man mag, dazu, dass sie einen jeden Tag etwas mehr hassen.« Sie sieht mich an. »Und ich glaube, sie hat Recht.«
»Was ist geschehen?«, frage ich. »Warum ist sie nicht mehr im Amt?«
»Sie hat einen Fehler gemacht«, antwortet Corinne spitz. »Leute, die sie nicht leiden konnten, haben das ausgenutzt.«
»Welchen Fehler?«
Sie zieht die Stirn noch stärker in Falten als sonst. »Sie hat jemandem das Leben gerettet«, sagt sie und lässt den elastischen Schlauch so schnell aufschnappen, dass ein roter Fleck an meinem Arm bleibt.
Ein Tag vergeht und noch ein Tag und nichts hat sich geändert. Wir dürfen das Haus nicht verlassen, unser Essen wird gebracht und auch der Bürgermeister hat sich nicht wieder nach mir erkundigt. Seine Leute kommen und sehen nach, wie es mir geht, aber das Gespräch, das er mir versprochen hat, findet nicht statt. Er lässt mich einfach schmoren.
Wer weiß, weshalb?
Trotzdem ist er das einzige Gesprächsthema.
»Und wisst ihr, was er gemacht hat?«, fragt Mistress Coyle während des Abendessens, des
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