Das dunkle Schweigen: Denglers zweiter Fall (German Edition)
räumte den Frühstücksraum auf, deckte die Tische, sortierte die Brötchen und Brotscheiben, die die örtliche Bäckerei morgens frisch anlieferte, in die Brotkörbe, verteilte die kleinen Portionsbehälter mit Butter, Konfitüre und Frischkäse auf den Tischen, belegte Platten mit Aufschnitt und bereitete dann in der Küche Kaffee. Als gegen 7.30 Uhr fast alle Pensionsgäste im Frühstücksraum saßen, bat Georg Dengler um ihre Aufmerksamkeit und erklärte ihnen, dass seine Muter für ein paar Tage im Krankenhaus sein würde. Die betroffenen Gäste zeigten Verständnis, boten sofort ihre Hilfe an, einige der Frauen organisierten spontan Putzkommandos, andere räumten bereits das Geschirr zusammen und drängten sich an Georg vorbei in die Küche.
Dann rief Georg Frau Willmann an, die Mutter seines Jugendfreundes Mario, die im Bärental wohnte und die seiner Mutter dreimal in der Woche half. Sie erklärte sich bereit, auf dem Dengler-Hof zu wohnen, solange seine Mutter im Krankenhaus lag. Er brauche sich keine Sorgen zu machen, sagte sie. Sie kenne sich aus und es mache ihr Spaß, den Betrieb zu führen.
Sie zögerte einen Moment.
»Weißt du, wann Mario aus Italien zurückkommt?«, fragte sie.
»Nein. Er hat sich schon lange nicht bei mir gemeldet.«
»Ich bin in einer halben Stunde da. Packe nur ein paar Sachen zusammen. Fahr du zu deiner Mutter. Um den Rest kümmere ich mich schon. Und ruf mich in der Pension an, wenn es etwas Neues gibt.«
Erleichtert legte Dengler auf. Dann fuhr er ins Krankenhaus nach Neustadt. Seine Mutter liege auf der Intensivstation, sagte man ihm an der Pforte und wies ihm den Weg.
Fast hätte er seine Mutter nicht erkannt, als die asiatisch aussehende Stationsschwester ihn zu der großen Glasscheibe führte und auf die Person in dem Bett aus weißem Rohrstahl zeigte. Über ihrem Kopf zeigten zwei unterschiedlich große Monitore EKG-Daten, Angaben zu Temperatur, Blutdruck und Atmung an, links und rechts des Bettes blinkten die digitalen Ziffern und Leuchtdioden zahlreicher weiterer Messgeräte und medizinischer Apparaturen. Drei Flaschen mit durchsichtigen Flüssigkeiten hingen an einer Vorrichtung unter der Decke, dünne Schläuche führten von dort zu den Geräten.
War es das grüne Krankenhaushemd oder die Umgebung mit all der medizinischen Technik, die sie so fremd wirken ließ? Sie lag auf dem Rücken. Unterhalb ihrer Nase waren zwei Kunststoffschläuche befestigt, um ihr linkes Handgelenk war eine weiße Manschette gebunden, daraus führte ein kleiner durchsichtiger Schlauch, der sich im Gewirr der zahllosen Drähte und Kabel verlor, die Kopf und Leib seiner Mutter mit all den Geräten verbanden. Ihr Mund stand offen. Atmete sie überhaupt noch? Die Geräte schienen konstante Werte zu empfangen. Nach einer Weile beobachtete Dengler, dass sich ihr Brustkorb in regelmäßigen Abständen unmerklich hob und senkte. Sie lebte. Doch dieser offen stehende Mund – Dengler blickte sich hilfesuchend nach der Stationsschwester um, doch diese saß längst wieder in ihrem verglasten Überwachungsraum am Eingang der Station.
Dengler verharrte noch eine Zeit lang vor der Glasscheibe und betrachtete seine Mutter. Dann ging er wieder hinaus auf den Flur. Dort setzte er sich auf eine kleine Bank.
Als sein Vater tödlich verunglückte, war Georg noch ein kleiner Bub gewesen. Er wusste – seit jenem verhängnisvollen Tag –, dass sie ihm die Schuld am Tod des Vaters gab. Und viele Jahre, seine ganze Kindheit und Jugend hindurch, hatte Georg Dengler selbst an diese Schuld geglaubt. Immer schwebte dieser Vorwurf über ihm, wenn er mit seiner Mutter zusammen war – auch diese fremde Frau im Bett auf der Intensivstation mit ihrem geöffneten Mund warf ihm vor, schuld am Tod des Vaters zu sein.
Auf Rat des Dorflehrers war Georg auf die Realschule nach Freiburg geschickt worden. Schließlich hatte er sich dort ein Zimmer genommen. Freiburg hatte ihm, der aus dem Schwarzwalddorf kam, eine völlig neue Welt eröffnet, vor allem war das die Chance, dieser ständigen Bedrückung zu Hause zu entkommen. In Freiburg hatte er sein schmales Schüler-BAföG durch kleine Einbrüche aufgebessert – und dann Romy kennen gelernt, die Medizinstudentin. Als diese erste große Liebe zerbrach, hatte er erkannt, dass er seinem Leben eine neue Richtung geben musste – und sich zum Polizeidienst gemeldet. Zur großen Freude seiner Mutter, die nicht ahnte, dass er damals nur knapp der schiefen Bahn entronnen war.
Weitere Kostenlose Bücher