Das dunkle Volk: Eishauch: Roman (Knaur TB) (German Edition)
irgendjemand etwas merkte, hielt ich inne und griff nach dem Orangensaft. Ich musste so tun, als sei nichts geschehen.
Leo kam an die Tür, stampfte sich den Schnee von den Stiefeln, und sein Gesicht war rot von der Anstrengung. Als er mich sah, nickte er mir zu, wickelte sich den Schal ab und zog die dicke Jacke aus.
»Wir haben wirklich einen höllischen Winter«, sagte er, um Atem ringend.
»Das kann man wohl sagen. Und du schleppst ihn uns rein.« Ich zeigte auf einen leeren Stuhl. »Setz dich lieber. Du siehst nicht gut aus.«
Er verzog das Gesicht und zerrte an seinem Kragen, als er hustete. »Ich fühle mich auch nicht gut. Ich schwitze, und mein Hals tut weh.« Als er erneut eine Grimasse zog, kam Rhia zu ihm.
»Mach mal den Mund auf«, sagte sie. Er gehorchte, und sie blickte in seinen Hals. »Dachte ich mir. Da ist alles rot und geschwollen. Sieht nach Streptokokken aus. Vielleicht auch Kehlkopfentzündung. Raus aus den Klamotten und ab ins Bett.«
»Ich muss heute noch einiges für Geoffrey erledigen …« Leo versuchte sich zu erheben, war jedoch so schwach auf den Beinen, dass er fast stürzte. Rhia stützte ihn auf der einen Seite, Kaylin auf der anderen.
»Du gehst heute nirgends mehr hin. So wichtig kann das ja nicht sein.«
»Doch. Hier ist die Liste …« Er wedelte mit seinem Notizblock, doch dann schlug das Fieber zu, und er ließ ihn fallen und sackte murmelnd in sich zusammen.
Ich nahm seinen Terminkalender vom Boden und klappte ihn auf. Ja, da standen einige Punkte, die zu erledigen waren, aber nichts, was nicht auch einer von uns hätte tun können.
»Pass auf, wir übernehmen das, Kumpel. Du schaffst deinen Hintern ins Bett. Rhiannon, Kaylin, ihr seht zu, dass er gut zugedeckt ist. Ich muss heute Abend sowieso zu Geoffrey, da kann ich ihm die Sachen aus der Reinigung auch mitbringen.«
Im Übrigen bekam ich hier eine Chance, den Regenten etwas näher kennenzulernen. In Leos Buch konnte ich zwar keine geheimen oder finster klingenden Missionen entdecken, aber einige der Aufträge mochten durchaus etwas genauer beleuchten, mit wem ich es eigentlich zu tun hatte.
Während Rhia und Kaylin sich mühten, Leo die Treppe hinaufzuschaffen, kehrte ich zu meinem Marmeladentoast zurück. Ich war gespannt, was ich herausfinden würde – falls überhaupt etwas. Aber am Rand meines Bewusstseins lauerte noch immer Lannans E-Mail, und mir gefiel überhaupt nicht, dass ich ihm in diesem Fall jedes einzelne Wort glaubte.
20. Kapitel
D ie ersten Aufträge waren schnell erledigt und eher langweilig. Ich fuhr bei Cheris Änderungsschneiderei und Reinigung vorbei und staunte über die grellen Farben der Jacketts und Smokings, von denen man mir zehn über die Theke reichte. Der Regent musste sich zweimal am Tag umziehen, wenn er einen solchen Bedarf hatte.
Ich fuhr vom Parkplatz des Mini-Einkaufszentrums, lenkte Favonis entspannt über die Straßen und betrachtete die Leute, an denen ich vorbeikam. Es herrschte viel Betrieb, was in Anbetracht der Tatsache, dass Weihnachten vor der Tür stand, nicht ungewöhnlich war. Tatsächlich hätte es jedes andere Jahr sein können, wenn nicht so auffällig gewesen wäre, dass alle in Gruppen unterwegs waren und selbst in den Autos immer mindestens zwei Personen saßen. Plötzlich war in New Forest Carsharing Usus.
Ich drehte die Musik auf. Napalm Love von Air dröhnte durch die Lautsprecher, während ich über Lannans Nachricht nachdachte. Er hatte keine Forderungen gestellt, keine Andeutung gemacht, dass er für seinen Rat bezahlt werden wollte. Man hätte fast das Gefühl bekommen können, dass er ausnahmsweise etwas rein Altruistisches getan hatte.
Glaub das nicht. Er hat immer etwas im Sinn – und im Augenblick will er dich am Leben erhalten. Er will dich haben, und das geht nur, wenn Geoffrey dich nicht auf seine Seite zieht.
Ich seufzte. Ulean, manchmal bist du ein echter Spielverderber. Aber ja, du wirst recht haben, und ich vergesse es nicht.
Als ich auf den Parkplatz meiner nächsten Etappe einbog, musterte ich den Laden. Leo sollte hier ein Paket abholen; mehr stand nicht im Terminkalender, daher nahm ich an, dass es abholbereit war, was immer sich darin befand. Ich stieg aus dem Auto, drückte die Tür auf und betrat das kleine Geschäft.
Es handelte sich um eine Rahmenwerkstatt, und die Sendung, die ich mitnehmen sollte, war ein gerahmter Druck. Die Verkäuferin bedeutete mir, dass ich mich an einen der Tische setzen sollte. »Ich hole
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