Das dunkle Volk: Mondschein: Roman (German Edition)
nicht, dass es sich um deine Geistergestalt handelte. Zu dem Zeitpunkt hatte Krystal etwas mit einem Tätowierer – Dane. Er liebte sie wirklich, und er war einer der wenigen Freunde in ihrem Leben, die halbwegs bei Verstand waren. Ungefähr drei Monate lang zahlte er uns Kost und Logis.«
»Hat er jemals was bei dir versucht?«, fragte Grieve barsch.
Ich schüttelte den Kopf. »Dane war außerdem einer der wenigen, die das nicht taten. Er war ein guter Kerl. Eines Abends jedenfalls hatten wir zusammen geraucht und waren schon ziemlich stoned. Krystal war unterwegs, um sich ein paar Dollar extra zu verdienen. Dane starrte mich an, und als ich ihn fragte, was los sei, antwortete er, dass er einen Wolf neben mir sehen konnte – einen schönen, silbernen Wolf mit grünen Augen, und er beschrieb ihn mir in allen lebendigen Einzelheiten.«
»Das war ich«, flüsterte Grieve und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Jetzt weiß ich es wieder. Ich habe in meiner Astralgestalt getan, was ich konnte, um auf dich aufzupassen.«
»Heute weiß ich das, aber damals hörte sich Danes Vision in meinen Ohren vor allem wunderschön an, und ich musste an meinen Beschützer aus den Träumen denken. Ich fragte ihn, ob er mir den Wolf in die Haut stechen könnte, und er willigte ein. Ich weiß, es klingt bescheuert, jemandem, der stoned ist, zu erlauben, dich zu tätowieren, aber ich wusste – ich war hundertprozentig sicher –, dass er keinen Mist bauen würde, und ich wollte diesen Wolf unbedingt. Außerdem hatte er die anderen Tätowierungen vorher auch gemacht, daher wusste ich, was er konnte. Also dröhnten wir uns mit Acapulco Gold zu, und er arbeitete fünf Stunden lang an dem Wolfskopf, den Rosen und den Schädeln.«
Ich schloss die Augen, um mich zu erinnern. Gegen acht Uhr abends hatte er eine Gary-Numan-CD – Outland – eingelegt und auf ›Wiederholen‹ gestellt, so dass das Album in Endlosschleife spielte. In den kommenden Stunden war nichts zu hören gewesen außer der Musik aus dem Zauberland des Elektro-Pop, dem Surren der Tätowiernadel und dem sanften Ziehen an den Joints, die er auf dem Tisch aufgereiht hatte.
Ich hatte stumm zugesehen, wie die Vision aus meinen Träumen in strahlenden Farben Gestalt annahm, erst der Wolf mit seinen leuchtenden, smaragdgrünen Augen, dann die Rosenranken und die violetten Schädel, die sich, vom Oberschenkel ausgehend, quer über meine Mitte zogen. Es hatte weh getan, aber der Pot hatte mir geholfen, den Schmerz zu durchdringen und mich in der Erfahrung zu verlieren.
Und dann, kurz nach eins in der Nacht, war Dane einen Schritt zurückgetreten und hatte geflüstert: »Mein Gott, Cicely, sieh dich nur an. Du bist wunderschön.«
Ich hatte an mir hinabgeblickt, gesehen, dass der Wolf aus meinen Träumen auf meiner Haut zum Leben erwacht war, und gewusst, dass er immer bei mir sein, dass er immer auf mich aufpassen würde.
»Am nächsten Morgen warf Krystal Dane hinaus und ohrfeigte mich. Sie war sicher, dass wir gevögelt hatten. Irgendwann schaffte ich es, sie zu überzeugen, dass er mich nur tätowiert hatte, aber es war zu spät. Eines Abends war Dane in seinem Laden, als irgendein Scheißkerl mit Ballermann reinstürmte, ihm das Hirn wegpustete und mit der Kasse verschwand. Man hat ihn nie gefasst, aber die Cops haben sich auch keine große Mühe gegeben. Dane fiel wie so viele andere Leute auf der Straße durchs Raster, und die Bullen hielten ihn für entbehrlich. Wieder nur irgendein Bikertyp, der sich seine Brötchen mit Tattoos verdiente.«
Ich verstummte und dachte an den großen blonden Mann, dem ich die aufwendigen Bilder auf meiner Haut verdankte. Damals hatte ich mir ausgemalt, dass er uns bei sich einziehen lassen, Krystal heiraten und uns eine Art beständiges Leben bieten würde, und sein Tod stürzte mich in eine tiefe Depression. Aber Krystal schien es nicht groß zu belasten; sie war nur verärgert, dass ihr niemand mehr das Essen bezahlte.
Danach hütete ich den Wolf vor fremden Blicken; ich wollte ihn mit niemandem teilen. Oft hatte ich das Gefühl, als sei er lebendig, und manchmal hörte ich ihn knurren, um mich zu warnen oder um mich zu rufen. Irgendwann dämmerte mir, dass es Grieve war – ob sein Geist oder seine Erinnerung, wusste ich allerdings nicht. Die Männer, mit denen ich geschlafen hatte, hatten die Tätowierung nicht besonders gemocht, aber das kümmerte mich einen feuchten Dreck. Der Wolf war ein Teil von mir, und ich
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