Das Dunkle
gewisser Weise schuldete Dess der alten Gedankenleserin etwas.
Ihr Leben zum Beispiel, so wie es war.
Als Madeleine sie an der Tür gefragt hatte, ob sie Dess noch einmal berührten dürfte, hatte sie deshalb Ja gesagt.
„Nur ein kleines bisschen Wissen, ein Schutz, falls Melissa dich jemals zu berühren versucht. Etwas, was du ihr ins Gesicht schleudern kannst.“
Dess hörte auf zu strampeln, ihr Fahrrad schlingerte. Sie ließ es ausrollen und atmete heftig bei dem Versuch, ihren Magen unter Kontrolle zu halten. Dann ließ sie das Rad aber doch fallen und rannte in das Gras am Straßenrand, wo sie Mittagessen und Magensäure auskotzte, als sie daran dachte, welche Erinnerung Madeleine ihr gegeben hatte.
Hatten sie das wirklich getan? Damals, als sie zwölf Jahre alt waren?
Dess schüttelte den Kopf, riss einen Büschel Gras aus und wischte sich daran den Mund ab. Ihr Magen war jetzt weitgehend leer, sie wollte sich aber auf ihrem Heimweg nicht weiter mit all dem auseinandersetzen. Es war fast dunkel, und der Wind wurde stärker.
„Ada“, sagte sie, und die Erinnerung zog sich gnädig zurück. Sie spürte sie knapp außer Reichweite, aber dennoch griffbereit, falls sie Rex und Melissa jemals niederbrennen müsste.
8.44 Uhr abends
25
„Hier sind deine Medis, Dad.“
Rex ging vor seinem Vater in die Knie, in einer Hand hielt er den winzigen Pillenbecher aus Papier. Weiß umrandete Augen, in denen wie üblich Furcht und Misstrauen standen, senkten sich vom Fernseher, um Rex anzusehen. Trotzdem nahm die zittrige Hand seines Vaters den Becher, hob ihn an seinen Mund und kippte ihn ab. Rex dachte daran, dass trocken schlucken zu den wenigen Tricks gehörte, die der alte Hund seit dem Unfall gelernt hatte.
„Das hast du gut gemacht, Dad.“
Eine Sache weniger, an die man denken musste. Melissa würde gegen zehn vorbeikommen, um ihn zu Constanza zu fahren, und mit einer zusätzlichen Gelben würde sein Vater von jetzt an bis weit nach Mitternacht keinen Ärger machen.
Rex veränderte die Dosierung seines Vaters nur ungern, aber in den frühen Morgenstunden war der alte Kerl allein eine größere Gefahr für sich selbst als ein Sedativ mehr.
„Weißt du, wo meine …? Wo sind meine …?“
„Die sind hier irgendwo.“ Rex stand auf und wandte sich ab. In der Küche wartete Daguerreotype neben seinem Fut-ternapf und rieb seinen Kiefer an der Ecke der Küchentheke.
„Kluger Dag“, murmelte Rex. Der alte Kater rannte immer hierhinein, wenn er hörte, dass Pillendosen geöffnet wurden.
„So ist es. Daddy hat seine Medis, jetzt kriegt Daggo was.“
Er drehte den Schlüssel an der Sardinendose. Als der intensive Geruch nach Öl und Fisch ausströmte, rieb sich der Kater aufgeregt an seinem Knöchel. Rex pulte eine fettige Sardine aus der gequetschten Masse und ließ sie am Schwanzende baumeln. Daguerreotype hob halbherzig eine Pfote, miaute dann laut und warf einen vorwurfsvollen Blick in seinen Napf.
„Nicht der richtige Zeitpunkt zum Spielen, nicht wahr, Daggy?“
„Miiiau“, lautete die Antwort. Fressen war eine ernste Angelegenheit. Rex steckte sich die Sardine selbst in den Mund und pulte kauend sechs weitere aus der Dose, die er aus Kniehöhe mit einem öligen Platschen in den Napf fallen ließ. Er sah dem Kater eine Weile bei seinem gierigen Angriff zu, dann wischte er sich die Hände ab, nahm den Telefonhörer und wählte.
„Ja?“
„Ist Dess da?“, fragte er.
„Ich bin’s. Die Eagle ist gelandet.“
„Was?“
Dess stöhnte. „Jessica war den ganzen Nachmittag hier. Wir werden um halb elf bereitstehen, voll bewaffnet, wie versprochen. Musst du mit Jess sprechen? Weil wir hier gerade beschäftigt sind.“
„Nein. Alles bestens. Dann bis …“ Er drehte sein Handgelenk, um die genaue Uhrzeit abzulesen.
„Bis dann, Rexy.“
Die Leitung war tot. Rex seufzte. Der Ausflug zu Constanza war ihm aufregend vorgekommen, als sie die Idee entwickelt hatten – zum ersten Mal, seit Jessica ihr Talent entdeckt hatte, wieder alle zusammen um Mitternacht. Aber jetzt, als der Abend angebrochen war, konnte Rex nur noch daran denken, dass er die ganze Nacht mit ihren fünf Persönlichkeiten jonglieren musste. Und dann noch aufpassen, dass niemand getötet wurde.
„Warum bist du nicht um Mitternacht geboren, Dag? Dann könntest du meinen Job erledigen.“
Der Kater hielt inne und sah ihn an, dann tauchte er den Kopf wieder in den Napf.
Mit dem Telefonat war wieder eine Sache erledigt. Mit
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