Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
Vom Netzwerk:
Millionen Westberliner dem Verhungern ausgesetzt oder es drohte ein Krieg zwischen dem Bären und dem Adler. Der Rat sprach sich dafür aus, zwei Wanderer nach Azon zu rufen, einen Mann und eine Frau. Er hatte sich während der Potsdamer Konferenz das Vertrauen vieler hoch gestellter Persönlichkeiten der nun streitenden Parteien erworben und sie war ein stiller Mensch, der nichts mehr ersehnte als Freiheit und Geborgenheit für alle. Die Sache hatte nur einen Haken, genau genommen sogar zwei.«
    Jonas’ Herz pochte so laut in seiner Brust, dass er befürchtete, die anderen könnten sich dadurch gestört fühlen. »Was waren das für Schwierigkeiten?«, hauchte er.
    Syrda blickte ihn eindringlich an. »Die beiden hatten gerade erst einen Sohn bekommen und ich lehnte es energisch ab, sie nach Azon zu rufen und den kleinen Schreihals auf der Erde zurückzulassen.«
    »Kann es sein, dass der ›Schreihals‹ gerade deinen Tee trinkt, Syrda?«
    Die Alte nickte und ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich bin eine Frau. Zwar habe ich nie ein Kind gehabt, aber ich konnte mich gut in Sarah, deine Mutter, versetzen. Die Herrenrunde im Kristallrat dachte nur an das große Uhrwerk, das unsere beiden Welten in Gang hält. Aber die Männer vergaßen, dass schon ein kleines Rädchen alles zum Stillstand bringen kann.«
    »Warum…« Jonas musste schlucken, sein Hals war rau wie Sandpapier. »Warum hast du nicht schon davon gesprochen, als wir vor drei Tagen in Laomar angekommen sind?«
    »Der Rat hat deine Eltern mit großem Respekt begrüßt. Wenn die Ältesten gewusst hätten, dass sie genau dieselben Wanderer vor mehr als einem Dutzend Jahren fast dem Tod ausgeliefert hätten, dann wären sie kaum imstande gewesen irgendetwas zu sagen. Gute Zusammenarbeit ist wichtiger als die Begleichung alter Schulden.«
    »Wieso sind denn meine Eltern überhaupt ins Zwieland… gerutscht, anstatt in die Farbenstadt zu gelangen?«
    »Hier liegt der zweite Haken. Die Flüsterer hatten damals ein auffälliges Raunen vernommen, als sie den Bären und den Adler beobachteten. Die Malkits steckten dahinter. Sie haben die Berliner Blockade angezettelt. Mir war klar, dass sie mit aller Macht versuchen würden die Wanderer auf ihre Seite zu ziehen, sobald das Echo der Flüsterer erklingen würde. Am Ende bekam keiner die Wanderer, sondern sie landeten genau zwischen den zerstrittenen Parteien: im Zwieland.«
    »Die Besatzung des Flugzeuges hatte leider weniger Glück.«
    Syrda nickte mit grimmiger Miene. »Ich bin damals aus dem Kristallsaal gefegt und habe ihn nicht mehr betreten, bis du vor drei Wochen aufgetaucht bist, Jonas.«
    »Konntet ihr das Problem in der Menschenstadt auch ohne die beiden Wanderer lösen?«, erkundigte sich Numin, während Jonas nachdenklich vor sich hin starrte.
    »Mehr schlecht als recht«, antwortete Syrda. »Ich kann mich noch gut an die Meldungen der Flüsterer aus dem Menschenjahr 1948 erinnern. Am 24. Juni sperrte der Bär alle Wege in den Westteil der Stadt. Der Adler war drauf und dran, mit Gewalt zu antworten. Wie heute sprach man auch damals von einem Atomkrieg. Zum Glück gelang es den Flüsterern, dem amerikanischen Präsidenten Truman einen – wie man glaubte – verrückten Geistesblitz einzuhauchen. Er schmetterte die Pläne seiner Generäle einfach ab, die sich gewaltsamen Zugang zur Stadt verschaffen wollten, und bestand auf seiner Idee. Die Luftwaffenkommandeure hielten den Einfall für undurchführbar, aber der amerikanische Präsident ließ ihn sich – dank der Flüsterer – dennoch nicht ausreden. Fast elf Monate lang flogen tausende und abertausende von Flugzeugen Nahrungsmittel und andere Güter über die Absperrungen und hielten die Stadt so am Leben.«
    »Es muss wirklich eine großartige Aufgabe sein, als Flüsterer zu dienen!«, schwärmte Numin.
    Syrda blickte ihn argwöhnisch an, als sei der Keldinianer nicht ganz richtig im Kopf.
    »Hattest du nicht vor kurzem noch Zweifel?«, neckte Darina den jungen Mann.
    Als Numin errötete, mussten alle herzlich lachen.
    Einige Zeit später – es war noch am Morgen – traten Jonas und seine Gefährten wieder auf die Klippe hinaus. Zum Abschied schenkte Syrda Darina und Jonas je eine Kette, deren Glieder aus unendlich feinen Korallen gefertigt waren. An jedem Halsband hing ein kleiner grüner Stein.
    »Das ist ein Freundschaftsstein«, erklärte die Alte lächelnd. »Die Ketten sind eine Hinterlassenschaft von Limba dem Seefahrer. Ich kann

Weitere Kostenlose Bücher