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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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durchsichtig. Der Ausblick auf das anbrandende Meer war atemberaubend.
    »Es ist schön!«, hauchte Darina. Sie war völlig verzückt von diesem Haus.
    Als Syrda ihre Gäste von unten energisch zu Tisch rief, stiegen diese nur widerwillig die gewundene Treppe hinab.
    »Ich gehe nur noch selten da hinauf – mein Rücken«, gestand die Alte und pflanzte Numin eine süße Rose aus Gebäck auf den Teller.
    »Ist das wirklich ein echtes Schneckenhaus?«, fragte Jonas.
    Syrda nickte. »Es wurde vor langer Zeit von Limba dem Seefahrer am Strand einer weit entfernten Insel entdeckt. Er dichtete das Gehäuse ab und band es dann einfach als Beiboot an sein Segelschiff. So gelangte es nach Laomar.«
    Darina legte ihre weißen Finger zärtlich auf die knöcherne Hand der Alten. »Limba ist ein Vorfahre von dir?«
    Syrda kicherte, ein Geräusch, als schüttle man eine Schachtel mit Muschelschalen. »Du bist wirklich eine Wissende, Darina. Ja, stimmt. Der große Limba war mein Urururgroßvater; ich weiß gar nicht, wie viele ›Urs‹ zurück. Leider habe ich keine Kinder. Wenn erst der Tod zu mir kommt – und er hockt schon irgendwo da draußen auf den Klippen –, dann wird niemand mehr da sein, der in diesem Schneckenhaus Geschichten erzählt.« Während die Alte dies sagte, behielt sie Darinas Gesicht genau im Auge.
    Die Wissende holte tief Atem und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Die Wände schimmerten von innen rosa und weiß. Überall hingen Büschel mit getrockneten Kräutern, verschiedene Werkzeuge, Krüge und Gegenstände, deren wahren Zweck wohl nur Syrda kannte. Die runden Fenster boten einen herrlichen Ausblick auf die sturmzerzauste Umgebung. »Ich könnte mir gut vorstellen hier zu leben«, sagte Darina endlich.
    »Das hatte ich gehofft.«
    Alle sahen Syrda erstaunt an.
    Die Alte kicherte wieder. »Du besitzt die Gabe der Weisheit, Darina. Ich bin zu alt, um noch im Rat der Ältesten zu sitzen und mir ihr Gezänk anzuhören.«
    »Aber Syrda!«, warf Darina erschrocken ein. »Der Kristallrat ist sich gewiss nicht immer einig. Doch am Ende hat er bisher stets zu einer Stimme gefunden.«
    »Trotzdem«, beharrte die Alte. »Es ist gut, wenn diese verstockten Greise auch ab und zu auf eine junge Stimme hören müssen. Vor allem dann, wenn diese einer Frau gehört. Du bist erst vor wenigen Tagen erwacht, Darina. Von Rechts wegen hast du als Wissende natürlich Anspruch auf eine geräumige Zimmerflucht im Muschelpalast, aber ich finde, dass dieses Haus hier viel besser zu dir passt.«
    Darina ließ ihre Augen erneut über die vielen Gegenstände an den Wänden wandern. Dann holte sie noch einmal tief Luft und sagte selig: »Das finde ich auch, Syrda. Ich würde dir gerne in diesem Haus zur Seite stehen, für hundert Jahre und noch länger. Allerdings gibt es vorher noch einige Dinge zu erledigen.«
    Jetzt drückte Syrdas hagere Hand diejenige Darinas. »Abgemacht. Mir ist klar, in welcher Klemme die Menschen stecken und damit auch ganz Azon. Bleib nur in der Stadt, bis diese üble Sache ausgestanden ist. Dann kannst du kommen.« Sie lächelte verschmitzt. »Mein Schneckenhaus hat viele Kammern.«
    Eine Weile lang unterhielten sie sich über die verschiedensten Dinge. Jonas staunte über den tiefsinnigen Humor der alten Syrda. Mit einem Mal fielen ihm wieder die Worte eines Ältesten aus dem Kristallsaal ein.
    »Syrda, Gondik hat einmal gesagt, dass du dich wie ein Einsiedlerkrebs in dein Schneckenhaus zurückgezogen hättest. Ist es unhöflich, wenn ich dich frage, warum du dem Rat so lange ferngeblieben bist?«
    Die Alte stieß ein schepperndes Lachen aus. »Ich habe schon gedacht, du würdest nie darauf kommen, Kindchen. Es gab damals eine Missstimmigkeit und im Kristallrat wurde nicht mit einer Stimme gesprochen. Die Angelegenheit liegt nun schon vierzehn Jahre zurück.«
    Jonas horchte auf.
    »Damals meldeten die Flüsterer ebenfalls eine große Gefahr. Schon im Menschenjahr 1948 waren der Bär und der Adler nicht besonders gut aufeinander zu sprechen. Die Flüsterer warnten, der Bär wolle eine ganze Stadt aushungern. Der Westteil dieser Ansiedlung gehörte zum Revier des Adlers und seiner Verbündeten; im Osten hatte der Bär es sich bequem gemacht. Die Stadt hieß Berlin.«
    »Kennedy und sein Kriegsrat haben in den letzten Tagen oft über Westberlin gesprochen«, warf Jonas ein.
    Syrda nickte. »Der Kristallrat ahnte damals die Gefährlichkeit der sich abzeichnenden Entwicklung. Entweder würden zwei

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