Das Echo der Flüsterer
»Du kommst vielleicht auf Ideen! Das ist ein Getreidespeicher und kein Wohnhaus.«
»Du wirst langsam schwer, Kraark. Willst du nicht mal ein bisschen herumfliegen?«
»Jetzt sei nicht beleidigt, aber ein kugelförmiges Haus…!«
»Ich denke, du kommst aus Kanada. Hast du noch nie ein Iglu gesehen?«
»Das zählt nicht. Die sind in der Mitte durchgeschnitten.«
»Du bist wirklich ziemlich schwer, Kraark.«
»Schon gut. Der Klügere gibt nach.« Der Rabe breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft.
Darina sah dem schwarzen Wirbelwind lächelnd nach. »Ihr beide seid gute Freunde, nicht wahr?«
Jonas blickte sie verwundert an. Dann stahl sich auch auf seine Lippen ein schiefes Lächeln. »Na ja, irgendwie sind wir das wohl.«
Ungefähr eine Viertelstunde später erreichten sie die Stadtgrenze. Jonas hatte gar nicht bemerkt, dass sie stetig bergab gegangen waren, bis sie plötzlich am Strand standen. Von dort aus waren sie dann immer weiter vom Hafen weggelaufen, bis die Straße nur noch ein schmaler, mit Muscheln gepflasterter Weg war, der sich eine Klippe emporschlängelte. Unten brandete das Meer gewaltig gegen die Felsen an und oben… Jonas blinzelte verwirrt.
»Dort oben wohnt die gute Syrda«, verkündete Darina und deutete mit der Hand auf ein merkwürdig geformtes Objekt an der Spitze der Klippe.
Jonas beschirmte seine Augen mit der Hand; der Himmel war erstaunlich grell, wenn man bedachte, dass sich nirgendwo eine Sonne blicken ließ. Einige Atemzüge lang versuchte Jonas zu begreifen, was er da vor sich hatte. »Ist dies ihr Haus?«
Darina nickte. »Hübsch, nicht wahr?«
»Aber das ist ein Schneckenhaus!«
»Ich wusste, dass es dir gefallen würde.«
Staunend folgten Jonas und Numin der Wissenden, die mit einem Mal ungeduldig den Klippenpfad hinaufstürmte.
»Warum läufst du denn so schnell?«, rief Numin ihr hinterher.
»Weil ich mich so freue, hier zu sein.«
»Du kommst wohl nicht oft zu der Alten herauf?«
Darina drehte sich lachend zu ihren beiden Verfolgern um. »Es ist heute das erste Mal.«
Numin und Jonas tauschten einen verwirrten Blick.
Als der Weg endlich die Spitze der Klippe erreichte, verschlug es Jonas endgültig die Sprache. Er hatte mehr als einmal von Syrdas Schneckenhaus gehört, aber es immer für eine abfällige oder scherzhafte, in jedem Fall jedoch bildhafte Umschreibung angesehen, doch nun… Das Heim der alten Weisen war – gemessen an den Behausungen gewöhnlicher Schnecken – gewaltig. Und es schien tatsächlich einmal ein echtes Meerestier darin gewohnt zu haben.
Im Vergleich zu den bunten Gebäuden unten in der Stadt wirkte Syrdas Schneckenhaus eher schlicht. Es war hellbraun und schraubte sich in einer enger werdenden Spirale kegelförmig nach oben, einer aufgerichteten Zipfelmütze nicht unähnlich. Der Durchmesser der runden Grundfläche des Gebäudes mochte vielleicht fünfzig Fuß betragen.
Syrda stand schon an der Tür, auf ihrem Buckel saß Kraark. Sie sah aus wie die Hexe aus dem Märchen von Hänsel und Gretel.
»Kinder!«, begrüßte sie die Ankömmlinge. »Das ist aber nett. Ich bekomme selten Besuch hier oben.« Sie umarmte das schmale Mädchen herzlich und ließ es sich auch nicht nehmen, die beiden männlichen Besucher zu drücken. Jonas glaubte vom Meer persönlich umfangen zu werden. Syrda roch nicht so komisch wie manche anderen alten Leute. Vielmehr umgab sie eine wahre Aura aus Salz, Tang und Seewind.
»Kommt nur rein«, knarzte Syrdas helle Stimme. »Ich habe vom Frühstück noch eine Kanne Tee auf dem Herd. Der wird euch gut tun, so stürmisch wie es hier oben ist.«
Der Tee schmeckte hervorragend. Staunend hatte Jonas die ersten drei Zimmer des Schneckenhauses durchmessen und saß nun in einem leicht keilförmig zulaufenden Raum mit gebogenen Außenwänden. Im Zentrum des runden Hauses befand sich eine Wendeltreppe, die in einem matten Licht schimmerte.
»Wenn du dir’s ansehen möchtest, geh ruhig hinauf«, meinte Syrda, die Jonas’ neugierigen Blick bemerkt hatte.
Während die Alte im Nachbarraum – der Küche – einen Teller mit Leckereien für die Gäste zusammenstellte, kletterten Jonas, Darina und Numin die Treppe hinauf.
»Das ist das Turmzimmer«, klang Syrdas krächzende Stimme von unten herauf.
Wie verzaubert blickten die drei Gäste aufs Meer hinaus. Das »Turmzimmer« befand sich in der hoch aufragenden Spitze des Schneckengehäuses. Es gab hier keine Fenster, aber die Wände waren rundherum
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