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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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aufgefallen, weder in der Spiegelregion noch beim Angriff Kanthelms auf die Stadt Kalvar. Vielleicht war es an beiden Orten zu hell gewesen, um den inneren Schimmer dieses Geschöpfes sichtbar zu machen. Doch hier, wo nur Jonas’ Fackel einige Tröpfchen Licht in den unermesslichen Saal träufelte, war der Glanz des Gorrmacks ein atemberaubendes Schauspiel. Er erinnerte an einen klaren Sternenhimmel, an ein funkelndes Kaleidoskop aus Blautönen, an ein Meer aus Diamanten, in dem sich Licht von jenseits des Universums brach…
    Auf einmal begann die Höhle zu beben. Es war wieder dieser tiefe Laut, der irgendwo aus dem gewaltigen Leib des Kristallwesens zu entspringen schien. Staub rieselte von der Decke auf den Jungen und den Raben herab.
    »Wie ist er hier nur reingekommen?«, flüsterte Jonas erschrocken. Jetzt war ihm doch mulmig geworden.
    »Nach allem, was ich bisher über die Gorrmacks erfahren habe, ist er wohl einfach durch sich selbst spaziert.«
    »Aber warum hockt er dann noch hier rum? Er muss sich doch vorkommen wie in einem Käfig.«
    »Siehst du nicht, dass er in der Klemme steckt?« Kraark flatterte von Jonas’ Schulter herunter.
    »Was?«
    »Wir befinden uns hier an seinem Schwanzende. Aber schau mal nach vorn. Er ist irgendwo eingeklemmt.«
    Anscheinend hatte der Rabe bessere Augen als Jonas. Das Funkeln des Gorrmacks reichte nicht aus, um die Höhle ausreichend zu erhellen. Der Junge konnte nicht erkennen, wo die Kristallechse feststeckte. Auf leisen Sohlen setzte er sich deshalb in Bewegung.
    »Wo willst du denn hin?«, krächzte Kraark.
    »Ich möchte ihn mir mal genauer ansehen.«
    »Aber wenn er dich angreift?«
    »Ich denke, er hängt fest?«
    »Seine Schnauze, aber doch nicht sein Schwanz! Wenn er nur einmal damit zuckt, sind wir für immer in die Felsen eingearbeitet. Da, sieh dir doch nur all die Trümmer an, die hier herumliegen.«
    Kraark hatte Recht. Die Felsbrocken, die über den Höhlenboden verstreut waren, zeugten von früheren Befreiungsversuchen des Gorrmacks. Doch Jonas ließ sich nicht einschüchtern. Er stieg einen kleinen Hang hinab, bis er den Boden des Felsendoms erreicht hatte, und schritt dann den riesigen Körper des Gorrmacks ab. Der Rabe trippelte im Sicherheitsabstand hinter ihm her.
    Je länger Jonas das Kristallwesen betrachtete, desto mehr ähnelte es für ihn einer Panzerechse. Der lange Schwanz, die vier Beine an den Seiten, der breite Körper und die lange Schnauze – alles stimmte. Ein irrwitziger Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Konnte es sein, dass Old Big Shadow, der riesige Alligator, dessen Revier beim blauen Himmelsstein lag, so etwas wie ein Echo des Gorrmacks war?
    Nein. Sicher nicht, sagte sich Jonas. Zumal dieser Gorrmack ja erst vor wenigen Tagen aus einem jahrtausendelangen Schlaf erwacht war. Auch jetzt schien er zu ruhen – wenn
    man einmal von dem regelmäßig einsetzenden Klagen absah.
    Jonas blieb neben dem Kopf des gefangenen Geschöpfes stehen. Jetzt konnte er erkennen, was den Gorrmack hier fest hielt: der Rest einer riesigen Kristallsäule, die einmal vom Boden bis zur Decke gereicht und die Welt Azon im Gleichgewicht gehalten hatte. Jetzt war sie zerbrochen.
    Atemlos starrte Jonas zu dem durchscheinenden blauen Stumpf hinauf. Der Gorrmack musste sich – vermutlich von Kanthelm dazu angestachelt – aufgebäumt und die Säule mit der Schnauze zerschmettert haben. Nur weil er selbst aus dem azonischen Kristall bestand, hatte er das harte Mineral bezwingen können. Doch dann war etwas geschehen, was wohl weder Kanthelm noch der Gorrmack bedacht hatten: Als Azon in Schieflage geriet, sackte das obere Ende der Säule auf den Gorrmack hinab und klemmte die Spitze seines Mauls am Höhlenboden fest, so als hätte jemand den Drachen dort mit einem überdimensionalen Reißnagel angeheftet. Unmittelbar daneben ragte noch der untere Säulenrest wie ein zu Stein erstarrter Riesenfinger auf.
    Jonas hatte einmal gelesen, am besten schütze man sich vor Krokodilen, indem man ihnen die Schnauze zuhielt. Dank ihrer Muskulatur konnten sie zwar fest zupacken, waren aber kaum in der Lage das lange Maul wieder zu öffnen, wenn es, auch nur mit geringer Kraft, vorn zusammengepresst wurde. In einer ähnlich misslichen Lage befand sich nun der Gorrmack.
    »Ist da wer?«
    Ein Schauer lief über Jonas’ Rücken. Die tiefe Stimme kam nicht von Kraark. Die Worte schwebten wie das zauberhafte blaue Licht in der Höhle, ohne dass er deren Quelle bestimmen konnte.

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