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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Einzelteile verstreut waren – einige Tragflächen, Propeller, Masten und Schiffsglocken –, die meisten Wracks befanden sich in erstaunlich gutem Zustand. Dazwischen schossen gleich ganze Sträuße schlanker, säulengleicher Gebilde auf, die aussahen wie die sechseckigen Quarzkristalle an der Wand einer Druse. Manche dieser durchscheinenden Felsnadeln waren so hoch wie Jonas, einige kleiner, die meisten aber sehr viel größer. In einigen schien es Einschlüsse zu geben wie in Bernsteinen: Pflanzen, Tiere… Menschen?
    Mit Beklemmung stellte Jonas fest, dass sich die Körper in den Kristallen bewegten – als schwebten sie in dem Mineral. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Einzelne Körper schienen zu leben: Arme hoben sich, Hände ballten sich zu Fäusten…
    Er wollte weg von diesem Ort. Verzweifelt zerrte er an den Leinen des Fallschirms, in dem er noch immer gefangen war. Schließlich gelang es ihm, das Schloss auf der Brust zu öffnen und sich aus den Schnüren zu befreien. Taumelnd kämpfte er um sein Gleichgewicht. Zu der ungewöhnlich geringen Schwerkraft dieses Ortes gesellte sich ein unangenehmes Schwindelgefühl in seinem Kopf.
    Erneut sah Jonas sich um. Er musste sich orientieren. Über seinem Kopf erblickte er ein millionenfaches Glitzern, das ihn benommen taumeln ließ. Unendlich viele plane Flächen bombardierten ihn mit allen nur denkbaren Schattierungen der Farbe Blau. Das Bild des Strudels kehrte in seine Erinnerung zurück. Hatte er nicht an dessen Grund dasselbe blaue Funkeln entdeckt?
    Nach einer Weile konnte er größere Konturen in dem blitzenden Licht ausmachen. Da gab es steile Berge, sanfte Hänge, schroffe Grate – aber alles stand auf dem Kopf! Jonas musste daran denken, was er vor längerer Zeit in einem Buch über die Carlsbadhöhle im Süden von New Mexico gelesen hatte. Der Big Room dort hatte eine Höhe von zweihundertfünfundachtzig Fuß und war damit der größte Höhlenraum Nordamerikas. Konnte es sein, dass er sich hier ebenfalls in einer Grotte befand – tief unter dem Meer und unvorstellbar groß –, an deren Decke ein ganzes Gebirge von Kristallen hing wie die Stalaktiten am Gewölbe einer Tropfsteinhöhle?
    Vorsichtig setzte sich Jonas in Bewegung. Er wusste nicht, wohin er gehen sollte, also suchte er sich einfach einen Pfad, der in möglichst großem Abstand zwischen den beunruhigend lebendigen Kristallen hindurchführte. Doch so sehr er auch den Hals reckte und nach allen Seiten Ausschau hielt, von der Wild Goose und ihrer Besatzung fehlte weiterhin jede Spur.
    Er versuchte den schmerzhaften Gedanken zu ignorieren die Suche nach seinen Eltern sei in eine Sackgasse geraten. Wie sollte er jemals das Pentagon in Arlington erreichen, wenn er sich schon am ersten Tag seiner Reise im Nirgendwo verirrte? Die Erinnerung an sie ist in der Vergessenheit versunken. Diese Worte wollten ihm nicht aus dem Sinn gehen. Nein, er hatte seine Eltern nicht vergessen. Sie lebten! Das fühlte er. Doch wie sollte man jemand anderen finden, wenn man sich selbst verloren hatte?
    Jonas kam nur langsam voran. Immer wieder musste er um sein Gleichgewicht kämpfen. Er fühlte sich wie ein Taucher, der behäbig über den Grund eines tiefen Sees spazierte. Nach einiger Zeit wurden seine Schritte fester – oder konnte es sein, dass er schwerer wurde? Die neue Sicherheit gab ihm Spielraum für weitere Wahrnehmungen. So bemerkte er auf einmal ein sonderbares Drücken in der Hosentasche.
    Ihm fiel der runde Gegenstand ein, den seine Finger im Sand gefunden hatten, als das Nashorn auf ihn losgegangen war. Während er dann an dem Verschluss des Fallschirmgurtes herumnestelte, hatte er den Stein einfach in die Hosentasche gleiten lassen. Ja, es war ein Stein, zu ungewöhnlich, um ihn einfach fortzuwerfen, nur so viel wusste Jonas noch. Im Weitergehen griff er in die Tasche, um seinen Fund eingehender zu betrachten.
    Als er den Gegenstand vor die Augen hob und gerade von allen Seiten studieren wollte, blieb Jonas wie angewurzelt stehen. Staunend bewunderte er den Kiesel – oder war es ein Kristall? Er besaß eine ungewöhnliche Form, glich beinahe einer in der Mitte durchgeschnittenen Kugel, auf der flachen Seite befand sich ein sechseckiges Loch, das nach innen spitz zulief. Der ultramarinblaue Stein war ungewöhnlich glatt, die ganze Oberfläche wirkte wie poliert. Nur wenn man ganz genau hinsah, konnte man auf der Halbkugel hunderte winziger Facetten erkennen.
    Nicht größer als eine dicke

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