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Das Echo der Flüsterer

Titel: Das Echo der Flüsterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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bisher an ein Ende gestoßen zu sein. Was Jonas jedoch jetzt an dieses Naturwunder denken ließ, war eine andere außergewöhnliche Entdeckung: Tief unter der Erde gab es ebenfalls einen Fluss, den Echo River, der eine Dreiviertelmeile lang und an seiner weitesten Stelle fünfundsechzig Yards breit war. Er blickte zu dem blau funkelnden Gewölbe empor und fragte sich erneut, ob er sich hier vielleicht in einer noch viel größeren Höhle befand.
    Dieser Gedanke beschäftigte ihn für einige Zeit so stark, dass er zunächst gar nicht bemerkte, wie sich die Landschaft veränderte. Die »Drusendecke« über seinem Kopf wich immer weiter zurück, die schwebenden Kristalle waren schon vor einer ganzen Weile verschwunden und nun traten auch die Glitzerpfeiler am Boden mehr und mehr auseinander. Nur noch selten konnte er Flugzeug- oder Schiffswracks entdecken. Und dann erblickte er das Tal. Sanfte grüne Hügel erstreckten sich zu seinen Füßen so weit das Auge reichte. Hier und da ragten Bäume aus dem hohen Gras auf, manche von ihnen in voller Blüte.
    Der Anblick war so überwältigend, dass Jonas noch einmal seine letzten Kräfte mobilisierte und wie in Trance vorwärts stolperte. Taumelnd erreichte er eine Wiese. Er fühlte sich so grenzenlos elend! Der Blutstrom in seinen Ohren zischte wie ein offener Straßenhydrant, ein Hammerwerk arbeitete hinter seinen Schläfen und in seinen Eingeweiden brannte die Übelkeit. Und trotzdem war er glücklich.
    Später wusste er nicht mehr zu sagen, wie lange er dann noch durch das kniehohe Gras gestapft war, froh, endlich dieser verfluchten Region mit den plötzlich auftauchenden Kreaturen entkommen zu sein. Er erinnerte sich nur daran, dass er glücklich die Rückkehr der Farben begrüßt hatte. Zu dem strahlenden Blau, das in den vergangenen Stunden seine Sinne überflutet hatte, waren allmählich andere Farben getreten: Grün, Gelb, Rot, in den unterschiedlichsten Nuancen. Und doch – in allem schien ein Rest der Farbe zu stecken, die auch den Kristall erfüllte, jenen Stein, den er noch immer in der Tasche trug. Als wäre ein blaustichiges Dia zur Welt erstarrt.
    Gerade hatte er einen Baum erreicht, eine allein stehende Rotbuche, die stolz aus der sanft abfallenden Wiese aufragte, als das Schwindelgefühl seinen Höhepunkt erreichte. Jonas sah noch weit voraus einen dunklen Schatten, der den Horizont versiegelte wie blaugraues Wachs. Konnte das ein Gewässer sein? Womöglich ein Ozean? Dann stieg in ihm eine merkwürdig warme Woge hoch, schien bis an seine Augäpfel zu schwappen. Wankend tastete er nach dem Stamm der Buche, aber er konnte ihn nicht erreichen. Er drehte sich um, zum ersten Mal, seit er die Region der Kristalle verlassen hatte, blickte zurück. Und was er dort sah, raubte ihm endgültig die Sinne.
    Vor seinen Augen erstreckte sich ein Gebirge, so weit man sehen konnte. Das Ungewöhnliche an diesem Bergmassiv war, dass es vom Himmel herabwuchs, nur einige seiner Gipfel reichten bis an den Boden. Jonas’ Kopf kippte immer weiter in den Nacken, während er im blauen Dunst des Himmels ein Ende dieses gewaltigen Gebirgszuges suchte. Doch die Berge wollten nicht aufhören. Sein ganzer Körper neigte sich nun nach hinten. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Gleichgewicht. Das Aufschlagen auf dem Boden spürte er schon nicht mehr.

 
    DER RABE
     
     
     
    Ein leises Scharren war das Erste, was Jonas vernahm. Es kam ganz aus der Nähe. Stöhnend drehte er sich auf die Seite. Da! Wieder dieses Kratzen – zwei-, dreimal hintereinander, dann war es erneut ruhig. Er schaffte es, sich auf den Bauch zu drehen. Mit Verwunderung stellte er fest, dass seine Übelkeit verschwunden war. Nur in seinem Schädel brummte noch ein Schwarm Hornissen. Am Hinterkopf fühlte er eine Beule.
    Jonas’ Augen suchten im näheren Umkreis den Boden ab, aber er konnte den Ursprung des seltsamen Kratzens nicht ausmachen. Unter dem Blätterdach der Buche war es ziemlich dunkel, offenbar hatte die Dämmerung schon eingesetzt. Er sah zum makellosen Himmel empor und stutzte. Nicht eine einzige Wolke war dort zu entdecken, aber was ihm viel merkwürdiger vorkam: Auch von der Sonne fehlte jede Spur. Allmählich kehrte Jonas’ Erinnerung zurück. Vorsichtig blickte er wieder in dieselbe Richtung wie vor seiner Ohnmacht. Und fast wäre ihm erneut übel geworden: Das gewaltige Gebirge hing immer noch am Himmel. Das war doch unmöglich! Diese Bergkette besaß alles, was ein ordentliches

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