Das Echo der Flüsterer
Kraark sachlich fest. »Die allermeisten Weisen vertreten den Standpunkt, dass Azon ein Teil der Erde sei, sich aber nicht auf der Erde befinde… Du bekommst schon wieder diesen starren Blick, Jonas.«
In Kraarks Worten spiegelte sich seine ausgesuchte Höflichkeit wider. Tatsächlich glotzte Jonas den Raben an, als sei ihm gerade der Verstand abhanden gekommen.
Kraark neigte den Kopf zur Seite, fast schien es, als sei er um die Gesundheit seines menschlichen Gegenübers besorgt.
»Wie meinst du das?«, fragte Jonas.
»Welcher Teil meiner Ausführungen bereitet dir denn Schwierigkeiten?«
»Dieses Azon, wie du es nennst, inwiefern ist es ein Teil der Erde und trotzdem nicht auf Ihr?«
»Ach so, um das geht es. Nun, ich bin zwar ein Rabe, aber selbst ich kenne nicht das ganze Geheimnis dieser Welt. Nur die Wissenden könnten dir erklären, wie alles einmal begann.«
»Vielleicht würde es genügen, wenn du es mir in groben Zügen schilderst.«
»Na gut, warte…« Kraark watschelte einige Schritte nach links, wo er mit seinen Krallen zuvor den Boden wie mit einer Harke aufgekratzt hatte. »Schau«, begann er seine Ausführungen, »wenn das hier die Erde ist«, er zeichnete mit dem Schnabel einen großen Kreis in den Sand, »dann ist das da Azon, ›die Welt unter dem blauen Kristall ‹ . « Kraarks Schnabel kritzelte ein gezacktes Etwas auf den Boden.
»Jetzt verstehe ich. Du willst sagen, Azon steckt in der Erde.«
»Nein.«
»Nicht?«
»Nun, nicht ganz. Die Legenden berichten, dass ein Kristall, so groß wie eine Insel, fast wie ein ganzer Erdteil, in eurem Meer liegt.«
»In unserem Meer?«
Kraark stieß ein heiseres Seufzen aus. »Ich spreche von euch Menschen, Jonas. Ihr nennt das Meer übrigens den Atlantischen Ozean.«
»Ah ja. Und wie ist der Kristall dorthin gekommen?«
»Nur die Wissenden können dir das sagen.«
»Verstehe.«
»Wahrscheinlich nicht. Aber lass mich fortfahren: Vermutlich weißt du, dass durchsichtige Körper bestimmte Eigenschaften besitzen, was die Lichtbrechung betrifft.«
Jonas konnte noch immer nicht glauben, dass ein Kolkrabe ihm da einen physikalischen Vortrag hielt. Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Nun, eine Lupe zeigt dir ein vergrößertes Abbild von dem, was sich über ihr befindet; ein Prisma spaltet das weiße Licht in die verschiedenen Farben auf«, präzisierte der Vogel.
»Jetzt ist mir klar, was du meinst.«
»Schön. Dann wirst du ja auch wissen, welche lustigen Spielchen man mit einem Glas oder mit Kristallen anstellen kann: Sie vermögen ein Bild nicht nur zu vergrößern, sondern es auch kleiner zu machen, es zu verzerren, es auf jede nur erdenkliche Art zu verändern, bis man am Ende vielleicht gar nicht mehr weiß, wie die ursprüngliche Form ausgesehen hat, der das Abbild seine Existenz verdankt.«
»Ja, genau!«, freute sich Jonas. »Das kenne ich natürlich. Großvater war mit mir mal auf einem Jahrmarkt, in einem Spiegelkabinett. Ich habe mich fast totgelacht über meinen lang gezogenen Kopf und die kurzen Stummelbeine.«
Kraark blickte Jonas für einen Moment nur aus seinen schwarzen Augen an. »Nun gut«, fuhr er dann fort, »dann weißt du ja jetzt Bescheid.«
»Was? Wie? Ich weiß gar nichts, keinen Schimmer, wovon du sprichst.«
»Dann solltest du meinen Ausführungen mit etwas mehr Aufmerksamkeit folgen.«
»Entschuldige bitte.«
»Azon«, stellte Kraark nun mit ungewöhnlich tiefer Stimme fest, »gleicht gewissermaßen einem Bild. Aber es ist viel mehr als nur das flache Abbild der Erde, die sich über dem blauen Kristall befindet. Azon hat Form, Volumen und es besitzt Leben.«
Jonas kniete mit offenem Mund vor dem Raben, abwechselnd blickte er den Vogel und die Zeichnung auf dem Boden an. »Ein Bild, das lebt?«, murmelte er ungläubig.
»Wie gesagt, bei dieser Erklärung handelt es sich mehr oder weniger um ein wissenschaftliches Modell. Vielleicht ist es nicht in jedem Punkt völlig präzise.«
»Natürlich.« Jonas’ Blick war an dem gezackten Punkt innerhalb des von Kraark gezogenen Erdkreises haften geblieben. »Warum ist Azon nicht rund?«
»Unsere Welt wurde aus einem Kristall geboren, also hat sie selbst auch die Gestalt eines solchen.«
»Aber…« Jonas sah auf und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Mit seiner rechten Hand holte er zu einer weiten Geste aus und sagte dann: »Diese Welt sieht überhaupt nicht eckig aus, wenn man mal von diesem unheimlichen Gebirge da drüben absieht.«
»Das täuscht,
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